Der schwarze Ballon
mich nicht, als er am Sonntag morgen abdüste. Er hinterließ einen Zettel auf meinem Küchentisch: Treffen uns um zwölf im Büro. Nur noch drei Tage bis zur Deadline. Es war wieder ein herrlicher Tag. Ich nahm den D-Train und machte wie üblich meine Abkürzung über die Baustelle. Ich war zwanzig Minuten zu früh dran. Von weitem glaubte ich, wieder den Mann mit dem Schlapphut zu sehen, aber er war nicht zu sehen, als ich vor dem Haus ankam. Das Display am Anrufbeantworter blinkte. Ich hörte das Band ab. Zuerst kamen eindeutig-zweideutige Atemgeräusche. Dann eine Männerstimme: »Ich warte auf dich.« Es klang so, als hätte er versucht, seine Stimme zu verstellen. Ich erkannte sie nicht. Ich fühlte, wie mir ein kalter Schauer über den Rücken lief. Ich hoffte, daß Alex sich beeilen würde. Ich spielte mit Make-up aus dem Erste-Hilfe-Kasten herum, um die Zeit totzuschlagen. Mir fiel ein, daß ich immer noch nicht daran gedacht hatte, mir das passende Ketchup für Häftlingsblässe wie meine zu kaufen — das einzige, was ich habe, ist dieser Gesichtsbräuner (»für Puertoricanerinnen«, wie Santi meint). Als Alex endlich ankam, spielte ich ihm die Nachricht vor. Er meinte, es hätte nichts zu sagen. »Wahrscheinlich irgendeine arme Sau, die aufs Geratewohl irgendeine Nummer gewählt hat.« Ich war da nicht so sicher. Wir fuhren mit dem F-Train zur 4. Straße West und gingen zu Fuß zu Herbs Studio-Apartment am Waverly Place im West Village. Als hätte der Tag mit dem anonymen Anruf nicht schon schlecht genug für mich angefangen, war auch noch die Klimaanlage im Zug im Eimer. Horden von Wochenendtouristen aus New Jersey und Long Island verstopften die Sixth Avenue, die ohnehin schon überfüllt war von Straßenverkäufern, die schlechtes Räucherwerk, noch schlechteren Schmuck und abgrundtief scheußliche Kitschportraits verkauften. Auf dem geteerten Hof gegenüber dem Kiosk spielten ein paar Kids Basketball. Wir kaufen Bagels und Kaffee (für mich Tee) und setzten uns auf eine Hauseingangstreppe gegenüber von Herbs Haus. Wir warteten. Es war ungefähr halb eins. Ich wußte, daß Herb jeden Sonntagmorgen die Times von vorne bis hinten durchliest und seine Wohnung nie vor ein Uhr mittags verläßt. Er hatte damit oft beim Midnight geprahlt. Wir aßen unser Frühstück. Keiner von uns erwähnte den Kuß der letzten Nacht. Ich dachte allerdings daran. Ich hoffte nur, daß er sich nicht in irgendeiner Weise problematisch auf unsere Ermittlung auswirken würde.
Ich dachte über die Möglichkeit nach, daß Herb und Belle was miteinander hatten. Herb sonnte sich in Belles Aufmerksamkeit — wie jeder andere beim Midnight auch. Daß vieles davon reine Koketterie war, schien ihn nie zu stören. Im Gegenteil, er trug sogar noch dick damit auf. Eine heimliche Liebesaffäre wäre nicht total abwegig. Alex meinte, die Tatsache, daß wir die Brustwarzenode zusammen mit dem Brief in ihrer Handtasche gefunden hatten, könnte ein Indiz dafür sein, daß Herb der Poet war und möglicherweise auch der Mörder. Ich hatte noch keinen genauen Plan, wie Alex und ich uns ihm gegenüber verhalten sollten. Herb war ein Freund von mir. Es widerstrebte mir, ihn zu beschuldigen. Falls er uns entdeckte, würden wir improvisieren müssen. Wenn nicht, würden wir halt Herbs Privatleben ein bißchen besser kennenlernen.
Pünktlich wie die Maurer kam Herb um 1 Uhr aus der Haustür. Wir versteckten uns hinter Zeitungen, als er auf der anderen Straßenseite an uns vorbeiging. Er hatte sich voll rausgeputzt. Er trug einen leichten grauen Valentino-Anzug mit einem weißen Strunztuch in der Brusttasche. (Ich hatte meine Brille auf, so daß ich alles sehen konnte.) Alex und ich gingen langsam aus unserem Hauseingang raus und pirschten ihm unauffällig nach. Ich war ganz in Schwarz gekleidet, um möglichst unauffällig zu wirken bei unserer verdeckten Ermittlung — wahrscheinlich eine schlechte Wahl: die Sonne briet mich. Alex trug seine gewohnte 501.
Herb hielt vor einem Spirituosenladen und ging hinein. Er kaufte eine Flasche Brombeerbrandy. »Eklig«, flüsterte ich Alex zu. Er gab dazu keinen Kommentar. Als nächstes blieb Herb vor einem Postamt stehen. Er zog einen Brief aus der Tasche, zog sich eine Briefmarke am Automat, klebte sie drauf und steckte den Brief in den Briefkasten. »Ich würde gern wissen, für wen der ist«, murmelte mir Alex zu. Als nächstes hielt Herb vor einem Store 24 auf der Greenwich Avenue an. Er zog sich etwas
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