Der schwarze Engel: Horror-Thriller
sollte in der Bibliothek stattfinden. Während James F. King durch den großen Raum schritt, schaute er sich um. Er sah das Feuer im Kamin, das hin und her tanzte und mit seiner würzigen Wärme den Raum ausfüllte. Er sah die bis zum Boden reichenden Fenster, deren geteilte Scheiben durch schwere Vorhänge verdeckt waren. Seine Blicke erfaßten die alten, wuchtigen Möbel und den großen Tisch mit den gebogenen Beinen, der noch aus der Ritterzeit stammte.
Jetzt war der Tisch gedeckt. Sie wollten mit einem Festessen beginnen, das Henry, der Butler, servierte. Anschließend hatte der Mann dienstfrei. Die Kings wollten unter sich sein.
Bis auf das Prasseln der Flammen war es ruhig in dem großen Raum. James F. King hörte den Sturm um die zahlreichen Giebel und Ecken des Schlosses heulen, und wieder einmal spürte er etwas von der wilden Romantik, die ihm dieses Land und das Schloß vermittelten.
Vor einem großen Wandspiegel blieb er stehen.
Der Spiegel stammte aus dem achtzehnten Jahrhundert. Irgendein Vorfahr hatte ihn auf einem seiner Raubzüge erbeutet. Es war ein besonders prächtiges Stück. Die beiden Wandleuchten neben dem Spiegel ließen den kunstvoll geschnitzten Rahmen noch kostbarer erscheinen, als er in Wirklichkeit war. Die Fläche schimmerte matt. Nicht so glanzvoll wie bei einem normalen Spiegel, sondern eher wie die Oberfläche eines Bergsees, wenn sie vom Wind leicht gekräuselt wurde.
James F. King betrachtete sich im Spiegel. Der Mann sah noch sehr gut aus für seine zweiundfünfzig Jahre. Das blonde Haar zeigte die ersten grauen Strähnen. Unter den buschigen Augenbrauen blickten zwei wache, graue Augen hervor, und der weiße wohlgestutzte Oberlippenbart fiel in dem sonnenbraunen Gesicht besonders auf. Wie angegossen saß der schwarze Smoking. Wer ihn sah, hielt James F. King für einen Gentleman der alten Schule.
Und das war er tatsächlich. Er hatte noch Manieren, etwas, das man in dieser Zeit nicht oft erlebte. James Fennimore King wußte, wie man eine Dame zu behandeln hatte. Er bewegte sich auf großen Gesellschaften, die die Queen gab, ebenso sicher wie auf dem Rennplatz von Ascot.
James F. King war ein Mann von Welt.
Seine ganze Liebe galt den beiden Frauen, die um ihn waren. Vor allen Dingen jedoch hing er an Damona, seiner Tochter. Sie bedeutete ihm alles, und sie war ein Ebenbild ihrer Mutter. Vanessa hatte damals, als er sie kennenlernte, ebenso ausgesehen.
An einem solchen Tag kamen die Gedanken an die Vergangenheit ganz automatisch. Und die Vergangenheit sollte an diesem Abend auch auferstehen. Damona mußte nun die Wahrheit erfahren, die man einundzwanzig Jahre lang vor ihr verborgen gehalten hatte.
Ein Klopfen unterbrach James Kings Gedanken.
Der Industrielle wandte sich der Tür zu. »Ja bitte?«
Lautlos betrat Henry, der Butler, den Raum. Henry war die treue Seele im Hause der Kings. James hatte ihn aus London mitgebracht.
Henry trug eine gestreifte Weste, ein gestärktes weißes Hemd und eine Schleife unter dem Kragen. Die Bügelfalten seiner dunklen Hose waren so scharf, daß man Angst haben konnte, sich daran zu verletzen. Er stand da, als hätte er einen Spazierstock verschluckt. In Henry paarten sich die Tradition und die Überheblichkeit der typisch englischen Butler.
In seinem hageren Gesicht, das von einer Charakternase geteilt wurde, verzog sich keine Miene, als er meldete: »Mylady ist unterwegs zum Dinner, Sir!«
James F. King lächelte. »Ich danke Ihnen, Henry.«
Der Butler deutete eine Verbeugung an und öffnete dann die Tür, um Vanessa King in die Bibliothek treten zu lassen. Als sie die Schwelle überschritten hatte, zog er sich lautlos zurück.
James F. King ging seiner Frau entgegen. In seinen Augen blitzte es, als er die strahlende, vollerblühte Schönheit anschaute. Trotz ihrer nun fünfundvierzig Jahre sah Vanessa um zehn Jahre jünger aus.
Sie besaß die gleiche schwarze Haarfülle wie ihre Tochter. Das Gesicht mit den hochstehenden Wangenknochen zeigte nur an den Augen winzige Fältchen. Der Mund war voll und reif. Die Lippen schimmerten verführerisch.
Das dunkle schwarze Kleid reichte bis zum Boden und wurde an den wohlgerundeten nackten Schultern nur von zwei dünnen Trägern gehalten. Den schlanken Hals schmückte eine kostbare Perlenkette, und der hochkarätige Diamantring am Finger der rechten Hand blitzte auf, als der Widerschein des Kaminfeuers ihn traf.
»Meine Liebe«, sagte James F. King und zog seine Frau in die Arme.
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