Der schwarze Engel
gar
nicht wollte, weil es ja auch viele Neider gab, die eifersüchtig waren und ihr
das Leben schwer machten. Dazu brachte sie noch einige andere sehr interessante
Geschichten auf den Tisch, von denen sie selbst glaubte, dass sie wahr seien,
ohne zu wissen, dass es nur Lügen waren, die Delicia ihr erzählt hatte, damit
Vanessa es weiter erzählen und damit noch mehr Aufmerksamkeit auf Delicia
lenken würde. Aufgeregt und bedrückt zugleich berichtete sie davon, dass einige
Leute Delicias Fenster eingeworfen hatten, mitten in der Nacht, mit einem
Stein, auf dem eine Morddrohung gestanden hatte. Außerdem hätte der Sohn des
Bürgermeisters sich in sie verliebt, doch diese Beziehung hatte keine Chance
gehabt, weil viele eifersüchtige Frauen Delicia schlecht gemacht hätten und sie
sich daraufhin sehr verletzt zurückgezogen hätte. Viele gute, interessante
Geschichten schwebten an diesem Abend durch den Raum. Die Leute waren entsetzt,
erschüttert, bewegt, voller Mitgefühl und Sympathie für das arme, besondere,
wundervolle Model und würden all dies Erfahrene in den nächsten Tagen
ausführlich mit Freunden und Bekannten teilen. Es schien unfassbar, was diese
Person durchzumachen hatte, und trotz allem blieb sie so liebevoll und
freundlich und versuchte sogar noch, ihre Talente zu verstecken. Das Phänomen
Delicia war wie ein Märchen voll tragischem Zauber, das den Alltag aufwühlte
und ihm Besonderheit verlieh.
8
Sharon war müde davon, Befragungen
durchzuführen. Sie wollte ihre Informationen ordnen, ihre Besprechung mit Joe
abhalten und dann wenigstens für ein paar Stunden nach Hause fahren, sich
chinesisches Essen bestellen und dann ein wenig schlafen. Ab und zu tauchten in
ihr die verdrängten Wünsche nach einem Urlaub, nach etwas Ruhe, Frieden,
Entspannung und Zeit für sich, auf. Sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass
sie sich nach diesem Fall eine Auszeit nehmen würde. Es lag ihr sehr viel
daran, für Gerechtigkeit zu sorgen, aber sie durfte nicht vergessen, dass sie selbst
auch nur ein Mensch war. Gerade in ihrem Beruf war die Verantwortung gegenüber
sich selbst etwas sehr Wichtiges, was man nicht aus den Augen verlieren durfte.
Sharon parkte ihren Wagen und
klingelte bei ihrem nächsten Zeugen. Zum ersten Mal, seitdem sie diesen Fall
bearbeitete, befand sie sich an einem Schauplatzwechsel. Kein hübsches Haus in
einer schönen, ruhigen Umgebung mit scheinbarer Idylle in Vermögen, sondern
eine schmutzige, graue Gegend, die von klotzigen, heruntergekommenen
Hochhäusern geprägt war, zwischen denen sich hier und da einige kleine
Billiggeschäfte von ausländischen Inhabern, Rotlichtlokale und Kneipen
befanden, vor denen sich ungepflegte Leute aufhielten. Es fiel Sharon schwer,
zu glauben, dass hier jemand wohnen sollte, der mit Lenane befreundet gewesen
war.
Aus der Sprechanlage tönte eine
unfreundliche, genervte Stimme, kurz nachdem die Agentin bei ihrer Zielperson
geklingelt hatte: „Was ist!“
„Sharon Ang, FBI, ich möchte Ihnen
gerne ein paar routinemäßige Fragen stellen.“
Sharon hatte es sich angewöhnt,
das Wort „routinemäßig“ in ihre Vorstellung einzubinden, da die meisten Leute
schockiert reagierten, wenn das FBI vor ihrer Tür stand und sofort nervös
wurden, weil sie dachten, man hätte es auf sie abgesehen. Misstrauen von der
ersten Sekunde an erschwerte die Befragungen erheblich, Antworten wurden
zögerlich gegeben, wichtige Informationen wurden verschwiegen, es wurde so
wenig wie möglich gesagt und manche weigerten sich sogar, überhaupt etwas zu
sagen, ohne ihren Anwalt vorher anzurufen.
Die Stimme in der Anlage blaffte
zurück: „Worüber!“
„Über Lenane Fernandez.“
Es dauerte eine Minute, bis die
Stimme etwas gebändigter fragte: „Lenane Fernandez? Kommen Sie hoch!“
Kurz darauf ertönte ein schrilles
Summen an der Tür, das Sharon den Eintritt ermöglichte. Sie betrat eine
verwahrloste Wohnung im zehnten Stock, in der Chaos herrschte. Dawson, der
junge Mann Ende zwanzig, der sich benahm wie ein sechzehnjähriger Teenager,
führte sie über herumliegende Kleidungsstücke und Essensreste ins Wohnzimmer,
wo sein Kumpel Eric, der offenbar denselben Lebensstil führte, an einem
vertrockneten Rest einer alten Pizza herum kaute. Herablassend starrte er die
FBI-Agentin an, die mit ihrem gepflegten Äußeren schon von der ersten Sekunde
an seine ganze Abneigung entgegengebracht bekam.
„Also, was ist mit der Alten?“
Dawson lehnte sich an den
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