Der schwarze Engel
irgendjemand durch
Zufall etwas gesehen oder mitgekriegt. Außerdem würde er sich noch einmal mit
Lenanes Familie unterhalten.
Der Agentin rauchte der Kopf. Es
gab so viele Dinge, die überprüft werden mussten und manchmal war es schwer,
Prioritäten abzuwägen. Am liebsten hätte sie alles gleichzeitig gemacht, um dem
Täter möglichst schnell auf die Schliche zu kommen. Doch nach einem Arbeitstag
von achtzehn Stunden musste sie sich selbst eingestehen, dass ihre
Konzentration und Leistungsfähigkeit enorm nachgelassen hatten. Das Risiko, das
mit weiterem Arbeiten in solch einem Zustand einhergehen würde, war zu hoch.
Wichtige Dinge konnten vergessen, übersehen oder nicht wahrgenommen werden. Es
war unabdinglich, ein paar Stunden zu schlafen. Joe ging es nicht anders und so
verabschiedeten sich die beiden Agenten voneinander, während jeder zu seinem
Wagen ging und nach Hause fuhr, um Geist und Körper wenigstens ein paar wenige
Stunden Erholung zu gönnen, bevor sie mit neu aufgeladenem Energieakku
weitermachen würden.
10
Nachdem sich Delicia den ganzen
Vormittag über mit Lernmaterial zu ihrem Jurastudium befasst hatte und hoffte,
dass sie die Kurve doch noch kriegen und irgendwann zu den Besten gehören
würde, machte sie einen kleinen Spaziergang an der frischen Luft. Sie ging
langsam und versuchte, sich etwas zu entspannen und die Frustration in ihrem
Kopf und Herzen abzustellen. Sie konnte sich selbst der Wahrheit nicht
verleugnen, dass sie an viel zu vielen Vorlesungen nicht teilgenommen und
erhebliche Schwierigkeiten damit hatte, die Examen zu bestehen. Sie war nicht
die Musterstudentin, die sich anderen so selbstsicher gegenüber stellte und aus
Bescheidenheit nicht über ihre guten Leistungen sprechen wollte. Alles, was sie
trug, war eine Maske, damit niemand die wahre Delicia sah, die sie selbst nicht
mochte. Um sich der bitteren Wahrheit nicht stellen zu müssen, redete sie sich
ein, dass sie in Kürze zu den besten Studenten gehören würde und nur gerade
eine schlechte Zeit hatte, weil sie unzufrieden mit ihrem Leben war, weil man
sie ungerechterweise nicht so beachtete, wie man es sollte. Um ihre eigenen
Selbstzweifel nicht ertragen zu müssen, versteckte sie sich in einem Schwall
aus Narzissmus, der ihr sagte, dass sie eine besondere Person war, dass sie ein
Engel war, dass sie Güte, Schönheit, Anmut, Ehrlichkeit und Liebe verkörperte
und dafür geliebt wurde, weil sie zu alledem auch noch sehr viel Talent und
Begabung besaß.
Schließlich kam sie an einem
Geschäft vorbei, das Geschenkartikel aller Art anbot. Sie beschloss, sich ein
wenig darin umzusehen, da sich im Schaufenster einige Engelfiguren befanden.
Außerdem brauchte sie noch etwas für Vanessa, um sich bei ihr zu bedanken und
ihre Beliebtheit bei ihr aufrechtzuerhalten. Nachdem sie sich kurz umgesehen
hatte, nahm sie eine Silberkette mit einem roten Anhänger in Form eines Engels
von einem Ständer, an dem mehrere Artikel dieser Art hingen. Das würde ihr
sicherlich gefallen und sie ehren. Nachdem sie sich noch für eine Engelfigur
für sich selbst entschieden und gezahlt hatte und sich gerade umdrehte, um zu
gehen, sah sie, wie Nathalie den Laden betrat und diese für einen kurzen Moment
unschlüssig stehen blieb, als sie Delicia erblickte. Die setzte sofort ihr
Lächeln auf und begrüßte sie bemüht freundlich, während sie versuchte, ihrer
Stimme Weichheit und Sanftheit zu verleihen, sodass sie fast wie ein kleines
Kind sprach: „Nathalie! Was machst du denn hier? Deine Party letztens war ja
sehr gelungen, wie lange ging sie denn noch?“
Nathalie warf ihr einen
verärgerten Blick zu: „Ja, Delicia, du hast es mal wieder geschafft, die
Aufmerksamkeit auf dich zu ziehen.“
Fast wäre Delicia das Lächeln in
den Mundwinkeln gefroren, doch sie wahrte tapfer ihre Haltung, während sie sich
dachte, was für eine blöde, aufgeblasene Kuh diese Nathalie war: „Das war nicht
meine Absicht, das weißt du. Es tut mir leid. Ich komme nächstens nicht mehr.“
In der Absicht, bedrückt und gekränkt zu erscheinen, senkte sie ihren Kopf und
ihre Stimme, was dessen Wirkung nicht ganz verfehlte. Nathalie bekam ein
schlechtes Gewissen, dass sie Delicia verletzt hatte. Auch sie hatte die
Geschichten über sie auf ihrer Party gehört, und was sie angeblich alles
aufgrund von Neidern durchgemacht hatte. Nathalie musste sich wohl oder übel
eingestehen, dass sie Delicia für die Aufmerksamkeit beneidete. Diese musste
nur irgendwo
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