Der schwarze Engel
war kalkuliert und
berechnet, während die eigenen Gedanken düster blieben. Sie wusste nicht mehr,
wer sie selbst eigentlich war und hatte sich so weit aus den Augen verloren,
dass sie nicht mehr den Mut fand, ein neues, eigenes Leben zu beginnen. Es war
zu spät. Sie war zu weit gegangen – viel zu weit. Die Studentin war der
Meinung, dass es kein Zurück mehr gäbe und sie nicht stark genug wäre, wenn
jeder die Wahrheit über sie und die Dinge, die sie getan hatte, wüsste. Sie
würde ganz alleine und vielleicht unter schmerzlichen Folgen ihrer
Vergangenheit von null beginnen müssen. Delicia wollte das Leben nicht
aufgeben, das sie jetzt hatte. Ruhm und Anerkennung, Bewunderung und Aussichten
auf eine Karriere. Mittlerweile war sie innerlich so hart geworden, dass all
dies das Einzige war, was noch für sie zählte. Sie würde noch mehr erreichen
können, ein großer Star werden. Im Laufe der Zeit hatte sich Delicia eine
eigene Lebenseinstellung zugelegt: besser eine falsche Identität, als gar
keine.
Sie legte den Lipgloss weg und
betrachtete sich noch einmal ausgiebig im Spiegel, als es klingelte. Eilig
schnappte sich Delicia ihren dünnen Mantel und ihre Tasche, als sie das Haus
verließ und zu Ashley in den Wagen stieg. Mit einem strahlenden Lächeln
begrüßte sie diese und dachte sich gleichzeitig, wie man sich nur so unmöglich
anziehen konnte: „Hi, Ashley! Du siehst toll aus, ist das neu? Steht dir echt
gut!“
Zum ersten Mal seit langer Zeit
zeigte Ashley den Ansatz eines Lächelns. Sie trug ein sportliches, elegantes
Outfit und hatte sich die Haare hochgesteckt. Ihr Gesicht zierte eine ziemlich
dicke Schminkmaske. Vermutlich hatte sie so versucht, die Spuren ihrer
Niedergeschlagenheit und Trauer zu überpinseln. Dicker, türkiser Lidschatten
ließ ihre braunen, trostlosen Augen etwas lebendiger aussehen, viel Make-up
überdeckte die Hautunreinheiten, üppiger, brauner Lippenstift verliehen ihr ein
gewisses Aussehen. Ashley wirkte an diesem Abend mehr, wie ein malerisches
Kunstwerk, als wie ein Mensch: „Ja, das ist neu, danke. Du siehst aber auch
wieder toll aus! Ich habe Stunden gebraucht, um mich ein bisschen herzurichten,
aber du wirkst so natürlich und strahlst trotzdem so viel Schönheit aus.“
Das erheiterte Delicias Stimmung
und sofort antwortete sie: „Ich habe gar nicht viel gemacht, nur ganz schnell
hier und da paar kleine Tupfer, in fünf Minuten war ich fertig. Ich hatte
einfach keine große Lust heute, mich Stunden lang ins Bad zu stellen.“
Ashley zeigte Bewunderung, während
sie den Wagen auf die Straße lenkte: „Du besitzt von Natur aus eben diese
Schönheit und hast es nicht nötig, viel zu machen. Wenn du fünf Minuten im Bad
stehst, siehst du schon aus, wie das schönste Model. Also wenn du mal kein
Starmodel wirst, weiß ich nicht, wer dann!“
Delicia war der Meinung, dass es
Zeit wurde, dass das auch einmal jemand erkannte: „Danke, du machst mich ja
ganz verlegen.“ Sie wandte ihren Kopf zur Seite, als wäre sie unangenehm
berührt von so viel Kompliment.
16
Als sie den Klub „Beach Night“
betraten, kamen ihnen laute Musik und grelle Lichter entgegen. Der Raum war
überfüllt. Auf der kleinen Bühne in der Mitte boten billige Gogo-Girls einen
mittelmäßigen Anblick, die aktuellste Musik dröhnte aus dumpfen, qualitativ
minderwertigen Lautsprechern, an der Bar wurden wie am Fließband alkoholische
Getränke zu teuren Preisen ausgehändigt. Dieser Klub war einer der beliebtesten
Studententreffs in der Umgebung.
Delicia sah ein, dass sie sich
hier nicht leicht tun würde, den Mittelpunkt für sich zu gewinnen. Sie wollte
ihren ursprünglichen Plan trotzdem durchziehen und mit so vielen Leuten wie
möglich irgendwie in Kontakt treten und sie überzeugen. Mit ihrer Schönheit und
ihrer Persönlichkeit. Sie wollte Gesprächsthema dieses Abends werden und
hoffte, dass die hier Anwesenden auch ihren Freunden von ihr erzählen würden.
Von dem Model mit dem goldenen Herzen, dem Engel. Vielleicht würde so endlich
einmal ein Fotograf auf sie aufmerksam werden und ein Foto von ihr machen
wollen.
Als sie sich intensiver umblickte,
gelangte sie zu der Erkenntnis, dass sie sich mehr würde anstrengen müssen, um
hier wirklich etwas zu erreichen. So beschlossen sie, gleich morgen den
Besitzer dieses Klubs anrufen und ihn zu fragen, ob sie hier vielleicht einen
kleinen Auftritt machen könnte. Wenn nötig, war sie sogar dazu bereit, dafür zu
bezahlen, damit er
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