Der schwarze Kanal
40 Prozent der Eltern mit minderjährigen Kindern leiden «oft oder immer» unter Zeitdruck, jede zweite Alleinerziehende befindet sich im permanenten Stresszustand.
Das sind für jeden Familienpolitiker natürlich alarmierende Zahlen, und deshalb hat Ministerin Schröder die «Zeitpolitik» als neues Betätigungsfeld ausgerufen. Der Staat müsse entsprechende «Handlungskonzepte» entwickeln, erklärte sie; der vorgelegte Bericht markiere den «Einstieg» in die neue Politik. Noch ist nicht ganz klar, was darunter zu verstehen ist, aber man darf sicher sein, dass sich die Koalition schon etwas einfallen lassen wird, um den Begriff mit Leben zu füllen. Wenn es um die Familienförderung geht, ist der Regierung Merkel kein Programm zu groß oder zu teuer, wie die Einführung des Elterngelds zeigte, eine der kostspieligsten Sozialreformen seit Verabschiedung der Pflegeversicherung.
Es ist eigenartig: Die Zahl der Kinder in deutschen Familien sinkt beständig und damit auch der Betreuungsaufwand. Selbst ein Hartz- IV -Haushalt verfügt heute über eine Phalanx technischer Geräte zur Erledigung der Hausarbeit, von der man eine Generation zuvor nur träumen konnte. Die im Erwerbsleben verbrachte Zeit ist auf einem historischen Tiefpunkt angekommen. Trotzdem steigt ständig das Gefühl der Überforderung, jedenfalls in den Berichten, die zur Begründung neuer sozialstaatlicher Interventionen herangezogen werden. Die begleitende Soziologie redet von der «Rushhour» des Lebens, in der alles zusammenkommt: Karriere, Kinder, Partnerwahl. Mal abgesehen davon, dass diese Rushhour ziemlich lang dauert, nämlich ungefähr 15 Jahre, stellt sich die Frage, ob es wirklich Aufgabe des Staats sein sollte, hier über seine Sozialagenturen Abhilfe zu schaffen.
Mit dem Kampf gegen den Alltagsstress ist die Familienpolitik endgültig auf der Ebene der Lifestyle-Beratung angekommen. Wer nach einer Erklärung sucht, warum sich der Sozialstaat nur noch über immense Schulden finanzieren lässt, findet sie auch in dieser Art von Wellness-Programmen. Das Vernünftigste wäre sicherlich, der Staat würde seine Familienpolitik auf Steuerrabatte beschränken und sich ansonsten aus dem Zusammenleben seiner Bürger heraushalten. Möglicherweise ist ja nicht zu wenig, sondern zu viel Freizeit das Problem vieler Leute. Das Phänomen ist in der Psychologie als Entlastungsdepression bekannt. Aber das hieße, den Menschen zu sagen, dass schon viel gewonnen wäre, wenn sie sich ein wenig zusammenreißen würden, statt sich gegenseitig ihr Leid zu klagen. So lässt sich heutzutage keine Politik mehr machen.
Vorgeblich geht es darum, den Kinderreichtum in Deutschland zu stärken, das ist das große Ziel, hinter dem sich alle Familienpolitik versammelt. Daran gemessen ist schon das Elterngeld spektakulär gescheitert. Mehr als vier Milliarden Euro kostet diese Neuerung pro Jahr, aber an der Zahl der Geburten hat sich nichts wirklich geändert. Auch das Betreuungsgeld, über das die Koalition weiter hingebungsvoll streitet, wird die Deutschen nicht dazu bringen, mehr Kinder in die Welt zu setzen – zumindest nicht in den Schichten, an denen Wohlstand und Zukunft des Landes hängen.
Der Zusammenhang zwischen Fortpflanzung und finanzieller Ausstattung ist offenbar weit weniger stark als allgemein angenommen. Der vorherrschenden Meinung zufolge liegt es an den mangelnden Betreuungsangeboten des Staates, dass die Zahl der Geburten kontinuierlich sinkt. Kaum eine Rolle spielt in der Diskussion der unerfüllte Kinderwunsch. Eine erstaunlich hohe Zahl von Frauen, die nach den Motiven von Kinderlosigkeit befragt wurden, gibt Unfruchtbarkeit als Grund an. Immer mehr Frauen schieben die Geburt ihres ersten Kindes hinaus, um nach dem Studium eine berufliche Grundlage zu legen – eine durchaus vernünftige Karriereentscheidung, die allerdings auf brutale Weise mit der Biologie kollidiert. Dieses Problem ist in der Diskussion um die Geburtenarmut in Deutschland kein Thema, vielleicht auch weil sich gegen Unfruchtbarkeit noch kein staatliches Hilfsprogramm auflegen lässt.
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Unter Apokalyptikern
Auf einmal hatte die Krise um den Euro zwar kein Ende, aber immerhin einen neuen Helden. Georgios Papandreou hieß der Mann, der den entfesselten Finanzmärkten endlich die Stirn bot, indem er sein Volk zur Abstimmung aufrief. Eigenartig, werden Sie jetzt vielleicht denken, ist das nicht dieser Ministerpräsident, der es bis zuletzt nicht
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