Der schwarze Korridor
durch ein Moor. Jeder Schritt, jeder Atemzug war qualvoll. Ryan führte seine Gruppe Schritt für Schritt durch die Menge, die Stufen hinauf in die Nationalgalerie, und als dort die Menschen sich allmählich verliefen, verschwanden sie durch ein Rückfenster, flohen durch Hinterhöfe, über Mauern und Parkplätze, bis sie den rotgesichtigen Mann und seine Freunde abgehängt hatten und sich in der Oxford Street wieder unter Leuten befanden.
Nur James Henry hatte nicht gemerkt, was Ryan vorhatte. Als sie am Hyde-Park angelangt waren, zupfte er Ryan an seinem zerrissenen Mantel: »He, was machen wir eigentlich? Ich dachte, wir jagen die Fremden.«
»Ich weiß einiges über die Fremden, was heute niemand erwähnt hat«, sagte Ryan.
»Was?«
»Ich erzähle es dir, sobald wir zu Hause sind.«
Als sie endlich bei Ryans Wohnung ankamen, waren sie erschöpft.
»Was ist mit den Fremden«, fragte James Henry, kaum war die Tür hinter ihnen geschlossen.
»Die schlimmsten Fremdlinge sind die Patrioten«, sagte Ryan, »denn sie richten sich am offensichtlichsten gegen die Menschen.«
Henry war erstaunt. »Das stimmt nicht …«
Ryan holte tief Atem und machte an der Bar Getränke für alle zurecht.
»Die Patrioten …« murmelte Henry, »das ist unmöglich …«
Ryan gab ihm sein Glas. »Ich dachte«, sagte er, »die Entdeckungen im Weltall hätten uns neue Erkenntnisse gebracht. Statt dessen scheint es, als wären wir noch engstirniger geworden. Früher fürchteten sich die Leute nur vor anderen Rassen oder Nationen, vor anderen Parteien mit unterschiedlichen oder entgegengesetz ten Meinungen. Jetzt fürchten sie alles. Das geht zu weit, Henry.«
»Ich glaube dir immer noch nicht«, sagte James Henry.
»Schlicht – Paranoia. Was ist Paranoia, Henry?«
»Dinge zu fürchten – Komplotte – und so’n Zeug.«
»Man kann es noch genauer definieren. Es ist eine irrationale Angst, ein irrationaler Verdacht. Oft verdrängt man damit nur den wirklichen Grund seiner Angst. Man erfindet Gründe, weil der wahre Grund entweder zu störend, zu schrecklich ist oder zu schwierig zu behandeln ist. Das nennt man Paranoia, Henry.«
»Also …?«
»Also bieten die Patrioten uns ein Surrogat. Sie bieten uns etwas, und wenn wir darauf eingehen, lenkt uns das von den wirklichen Ursachen des gesellschaftlichen Elends ab. Das ist ganz üblich. Hitler lenkte die Deutschen mit den Juden und Bolschewiken ab. McCarthy bot den Amerikanern die kommunistische Weltverschwörung‹. Selbst unser Enoch Powell tat das mit den Einwan derern von den West-Indians in den sechziger und siebziger Jah ren. Es gibt noch viele Beispiele.«
James Henry runzelte die Stirn. »Du meinst, sie hatten unrecht? Ich bin nicht so sicher. Wir waren im Recht, als wir die Westin dians vertrieben. Wir hatten recht, wenn wir die Arbeitsplätze für Engländer reservierten.«
Ryan seufzte. »Was ist denn mit diesen ›Fremdlingen‹ aus dem Weltraum? Was tun sie unserer Wirtschaft?
Sie sind eine Erfindung – eine primitive Erfindung der Patrioten, um die, die sich ihren seltsamen Plänen widersetzen, auszuschal ten. Woher glaubst du, Henry, kommt der Ausdruck ›Hexenjagd‹?«
James Henry trank gedankenvoll. »Vielleicht bin ich wirklich etwas zu aufgeregt gewesen.«
Ryan klopfte ihm auf die Schulter. »Das sind wir alle. Das ist der Stress – und die Ungewißheit. Wir wissen nicht, wo das alles enden soll. Wir haben kein Ziel, weil wir nicht länger an die Gesellschaft glauben. Die Patrioten bieten Sicherheit. Aber ich glaube, die sollten wir besser selber finden.«
»Das mußt du erklären«, sagte John Ryan. »Hast du irgendwel che Vorschläge?«
Ryan breitete seine Hände aus. »Mein Vorschlag ist es, ein Ziel zu finden – ein vernünftiges Ziel. Ein Weg aus diesem Chaos …«
Und Ryan, am Schaltpult seines Raumschiffs, erinnert sich, daß dies der Abend war, an dem sich alles änderte. Jene Entscheidung hatte sie hierher gebracht an Bord des Raumschiffes ›Hope Dempsey‹ und auf ihren Weg nach München 15040, einem Stern der Barnard-Gruppe.
Kapitel 11
Hier im Weltraum gibt es kein Geräusch. Kein Licht und kein Leben. Nur das Leuchten weitentfernter Sterne begleitet das kleine Raumschiff auf seinem Weg durch die Dunkelheit.
Ryan denkt schweren Herzens an die Geborgenheit und Wärme von früher, während er mechanisch seine Pflichten erfüllt. Er erinnert sich an die Geburt seiner Kinder, denkt an ihre ersten Schulbücher, an
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