Der schwarze Korridor
war beinahe über ihr.
Mit einem Ruck wachte Frau Ryan auf. Beim Schein ihrer fluoreszierenden Wände sah sie auf die Uhr.
Es war 11 Uhr 31.
Zitternd lag sie auf ihrem weißbezogenen Bett und versuchte, ihren Traum abzuschütteln. Sie starrte auf die Wand und blinzelte mit den Augen, um den Eindruck der schwarzen, ausdruckslosen Gesichter der Menge zum Verschwinden zu bringen. Sie stand auf und wankte aus dem Zimmer. Sie ging in die Küche und nahm eine Pille, um ihren Kopf klar zu bekommen.
Seufzend nahm sie das Reinigungsmittel und ging zur Eingangstür.
Sie legte die Hand auf die Klinke.
Sie zögerte, straffte sich und öffnete die Wohnungstür. Sie schlich nach draußen in den langen Korridor.
Der Flur war hell und weiß und erstreckte sich nach beiden Seiten. Langsam versprühte Frau Ryan das Reinigungsmittel auf die Tür. Als der weiße Film die Tür bedeckte, begann sie, ihn schleunigst abzuwischen. Gleich habe ich es geschafft, dachte sie sich. Gott sei Dank habe ich es gleich hinter mir.
Ganz langsam öffnete sich die Tür der gegenüberliegenden Wohnung. Eine Frau spähte durch den Spalt. Sie und Frau Ryan starrten sich entsetzt an. Die Frau schlug ihre Hand vors Gesicht. Frau Ryan erholte sich zuerst.
Sie ließ die halbfertige Tür, wie sie war, lief in ihre Wohnung zurück und schlug die Tür hinter sich zu. Fast im gleichen Augenblick wurde die andere Tür geschlossen.
Frau Ryan stand in der Mitte der Küche und keuchte.
»Dieses Miststück«, sagte sie laut. »Dieses Miststück, warum verfolgt sie mich? Warum spioniert sie mir nach? Warum macht sie das?«
Sie ging zur Kommode, holte ein Döschen mit Pillen heraus und schluckte zwei. Sie ging ins Wohnzimmer und ließ sich auf die Plastikcouch fallen, sie schaltete das Fernsehen ein.
Auf dem Schirm war eine essende Familie zu sehen.
Die Familie – die Eltern und drei halbwüchsige Kinder – waren vergnügt und entlockten Frau Ryan ein Lächeln.
Bald war sie eingeschlafen.
Es war 11 Uhr 48.
Die Jungen weckten sie.
Sie erzählte ihnen, was vorgefallen war, und die Kinder erzählten es Ryan.
Ryan bedauerte sie.
»Du brauchst Urlaub, altes Mädchen«, sagte er. »Mal sehen, was sich machen läßt.«
»Besser nicht«, sagte sie, »ich will lieber zu Hause bleiben. Es ist nur die – Einmischung der Nachbarn. Ich bin stolz auf mein Zuhause.«
»Natürlich bist du das. Mal sehen, was wir machen können.«
Es war 19 Uhr 46.
»Die Zeit vergeht langsam«, sagte sie.
»Das kommt darauf an, wie man es sieht«, entgegnete er.
*
Sie hat eine ganze Masse erduldet, denkt Ryan, vielleicht hätte ich ihr mehr helfen sollen.
Er schüttelt den Gedanken ab. Nun war es zu spät. Selbstvorwür fe hatten keinen Sinn. Sobald man einen Fehler erkannt hat, soll man versuchen, ihn nicht wieder zu machen, aber nicht unnütz darüber nachgrübeln. Das war die pragmatische Haltung, die wissenschaftliche Methode.
Er schaut auf seine schlafende Frau herab und lächelt zärtlich. Sogar ihr Zustand hatte sich gebessert, sobald sie ein Ziel hatten. Sie war eine durch und durch sensible Frau. Ihr Zustand unterschied sich in nichts von dem Tausender anderer in den Städten der Welt. Vielleicht ging es den Bewohnern einsamer Landhäuser besser. Vielleicht, denn auch die Isolation der Menschen außerhalb der großen Städte war ziemlich unerträglich.
Natürlich hatte sie als Kind das Land geliebt. Ihr Traum war ein Beweis dafür, denkt er. Ihr immer wiederkehrender Traum, der irgendwo seinem Traum so ähnlich war.
Er läuft zwischen den Behältern entlang und überprüft sie automatisch.
Was ist das überhaupt – Zeit –? Treffen wir uns in unseren Träumen?
Sinnlose mystische Überlegungen.
*
Alles scheint in Ordnung. Die Container funktionieren. Ryan gähnt und reckt sich. Er ignoriert den Impuls, wenigstens einen der Bewohner in den Behältern zu wecken. Sie durften erst am Bestimmungsort des Raumschiffes geweckt werden.
Das ist seine Strafe, seine Prüfung, seine Belohnung.
*
Ein letzter Blick gilt seinen schlafenden Söhnen. Dann verläßt er den Raum, begibt sich in den Hauptkontrollraum und sendet seinen Bericht zur Erde. Alles wohlauf auf der ›Hope Dempsey‹.
Er schreibt in sein rotes Logbuch:
Auf der anderen Seite dieser dünnen Wände ist der unendliche Raum. Es gibt im Umkreis von Milliarden Meilen kein Leben. Kein Mensch war je so einsam.
*
In seiner Kabine nimmt er drei Tabletten, zieht sich aus
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