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Der schwarze Korridor

Der schwarze Korridor

Titel: Der schwarze Korridor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Moorcock
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ist«, sagte Frau Ryan kläglich. »Ich kann doch nicht wissen, wer anruft.«
    »Es tut mir wirklich leid, ich wollte nur fragen, ob ihr Lust habt, heute abend rüberzukommen.«
    »Das Auto ist kaputt«, sagte Frau Ryan, »er mußte heute schon den Bus nehmen. Ich habe ihm abgeraten, aber er wollte unbedingt. Ich weiß nicht …«
    Frau Ryan brach ab.
    Dann sprachen beide gleichzeitig.
    »Ich muß sauber machen –«
    »Könnt ihr nicht doch kommen?«
    »Onkel Sidney, ich muß heute die Eingangstür putzen, und ich weiß genau, daß in dem Moment, wo ich die Tür öffne, die Frau von gegenüber rauskommt und so tut, als müßte sie den Müllschlucker benutzen. Hast du eine Ahnung, was es heißt, solche Nachbarn zu haben?«
    Onkel Sidneys faltiges Gesicht verzog sich. »Schön, wenn ihr euren Onkel nicht besuchen wollt, dann eben nicht. Weißt du eigentlich, wie lange es her ist, daß ich euch und die Kinder das letzte Mal gesehen habe? – Drei Monate.«
    »Es tut mir leid, Onkel Sidney.« Frau Ryan schaute zu Boden und entdeckte eine Schliere auf einer der Kacheln des Fußbodens.
    »Wie wäre es denn, wenn du zu uns rüber kommst?«
    »Allein?« fragte Onkel Sidney ungläubig. Er unterbrach die Verbindung.
    Frau Ryan saß am Küchentisch und hielt den Hörer in der Hand. Langsam stand sie auf und hängte ein.
    Es fiel ihr unendlich schwer, das Staubtuch und das Reinigungsspray aus dem Schrank zu holen. Es schien ihr unmöglich, durch die Küche und das Wohnzimmer in den Flur zu gehen. Sie konnte niemals alleine die Haustür öffnen.
    Sie konnte die Haustür nicht öffnen.
    Vielleicht …
    Frau Ryan war verschreckt und durcheinander, ihre Gedanken konzentrierten sich auf den Punkt, gleichgültig, wie sehr sie dagegen ankämpfte.
    Sie konnte die Haustür nicht öffnen.
    Nein, sie konnte nicht.
    Sie seufzte und ging ins Schlafzimmer. Sogar im Tageslicht schimmerten die Wände in vielen Farben. Das Bett war sorgfältig gemacht, der Tisch war leer. Frau Ryan hob das einzige Zeichen, das auf das Bewohntsein des Zimmers schließen ließ, ein Paar von Ryans Schuhen auf und schloß sie heftig weg. Sie rann te zum Fenster und drückte den Knopf am Fensterbrett. Die Rolläden rauschten herab.
     
    Die Wände des Zimmers glühten und flackerten.
    Unruhig ging sie hin und her.
    Endlich hielt sie inne und stellte leise, beruhigende Musik an.
    Sie rannte aus dem Zimmer und verschloß die Eingangstür.
    Sie kam zurück und schloß auch die Tür zum Schlafzimmer, legte sich auf’s Bett und lauschte der Musik. Sogar die Musik beunruhigte sie heute. Sie schloß die Augen und die Gesichter erschienen.
    Sie öffnete die Augen und holte sich vom Nachttisch die Schlaftabletten. Sie nahm eine Tablette, stellte die Musik ab und legte sich wieder hin.
    Die Musik klang fast grob.
    Sie lag bewegungslos und wartete auf Schlaf.
    Es war 11 Uhr 23.
     
     
     
Kapitel 13
     
    Frau Ryan begann zu träumen.
    Sie lief quer über ein Feld, nahe dem Haus, in dem sie gewohnt hatte, als sie acht Jahre alt gewesen war. Wenn sie sich umsah, konnte sie ihre Mutter, vom Küchenfenster gerahmt, sich über den Herd beugen sehen. Hinter sich hörte sie die Rufe ihrer Brüder, die Versteck spielten. Sie konnte die Vögel in den Bäumen am Rande des Feldes singen hören.
    Sie schwebte über die Felder, immer weiter weg von zu Hause. Es war herrliches Wetter, die Vögel sangen. Sie drehte sich noch einmal nach dem Haus um, aber sie war zu weit entfernt, es war nicht mehr zu sehen. Es dämmerte. Nur undeutlich konnte sie noch die Bäume am Rande des Feldes erkennen. Es schien ihr, als höre sie ein Geräusch, Gespräche. Plötzlich sah sie, wie sich ihr eine dunkle Menge näherte. Obwohl die Entfernung immer mehr abnahm, konnte sie die einzelnen Personen nicht unterscheiden. Sie glaubte, es seien Männer, Frauen und Kinder. Aber die Masse blieb ein Schemen von Köpfen, Körpern und Gliedern, form- und gesichtslos. Die Menge kam näher, die Stimmen wurden lauter.
    Sie stand wie angewurzelt im Feld.
    Sie konnte sich nicht bewegen.
    Die Stimmen wurden deutlicher.
    »Seht, dort ist sie. Da ist sie. Wirklich, dort ist sie.«
    Sie fühlte, wie die Stimmung der Menge umschlug.
    Sie hatte Angst.
    »Sie ist dort, das ist sie. Das ist sie. Sie ist da.«
    Unbeweglich stand sie auf dem selben Fleck.
    »Dort ist sie. Dort ist sie. Sie ist es. Sie ist es.«
    Die Menge begann, sich in Bewegung zu setzen.
    Sie hörte die schrillen, rachedurstigen Schreie der Frauen.
    Die Menge

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