Der schwarze Krieger
Mädchen streckte ihn nicht nieder, obwohl sie es hätte tun können. Sie war ein Nektarvogel.»
Eine lange Pause trat ein.
«Als das Mädchen nach Hause ritt, glaubte sie, etwas durch die Luft pfeifen zu hören. Sie bekam Angst. Sie ritt rascher und trieb ihrem Pony die Fersen in die Seiten. Aber etwas stimmte nicht. Was sie gehört hatte, war das Pfeifen eines Pfeils. Als sie jetzt wie der Wind über die Steppe nach Hause fegte, kam ein anderer Pfeil geflogen und traf mit einem hässlichen Geräusch sein Ziel.» Die Priesterin schnalzte mit der Zunge an ihren Gaumen, ein Klang, der die Krieger zusammenzucken ließ.
«Das Mädchen spürte einen Schmerz im Rücken, doch der Schmerz in ihrem Herzen war größer, entsetzlich groß. Sie rief nach ihrem Sohn, während sie ritt, doch erhielt keine Antwort. Mit einer Hand griff sie hinter sich, die Zügel fest in der anderen, und tastete nach ihm. Er hing schlaff wie ein Toter an ihr. Der Pfeil hatte den Leib des Kleinen geradewegs durchbohrt und ihn sofort getötet. Dann war er weiter in das Fleisch des Mädchens eingedrungen. Nicht tief, aber tiefgenug. Aber es war nicht ihre eigene Wunde, die sie bis ins Herz spürte.
Sie zügelte ihr Pferd mit einem Schrei, der über die Steppe hallte wie der heulende Wind. Man stelle sich ihr Entsetzen vor, als sie hinter sich fassen und den Pfeil an den Federn aus ihrem eigenen Körper herausreißen musste. Ihren Sohn im Arm haltend, fiel sie fast vom Pferd. Ihr Kleid war von ihrem eigenen Blut und dem Blut ihres Sohnes verklebt, so wie beider Blut in ihrem Schoß vermischt gewesen war. Damals im Leben, jetzt im Tod.»
Die vom Wetter gegerbten Krieger hockten schweigend da. Auf einigen der grimmigen Gesichter funkelten Tränen.
«Sie legte den toten Körper ihres Sohnes auf die Erde, brach den Kopf des Pfeiles ab und zog den Schaft aus seinem Körper. Dann küsste sie sein Gesicht, er war so jung gestorben! Sie hätte ihm die Augen schließen sollen, aber sie brachte es nicht fertig. Sie fuhr ihm mit der Hand über sein Gesicht, über die Augen und blickte in sie hinein. Sie waren weit geöffnet, aber in ihnen war nichts mehr. Das Licht war aus ihnen gewichen. Sie presste ihn an ihre Brust und weinte.
Als sie aufblickte, waren Reiter um sie geschart. Sie entrissen ihr den toten Säugling und schossen weitere Pfeile in seinen Körper, um ganz sicher zu sein. Aber das war überflüssig. Und sie schleuderten sie, verwundet wie sie war, zu Boden, und jeder von ihnen verging sich an ihr. Als sie fertig waren, zogen sie sich die Beinkleider hoch, spuckten auf sie und lachten. Sie nahmen ihr das Pferd weg und ritten nach Hause.
Das, große Krieger, sind die Sitten der Budun-Boru, des Wolfsvolkes.»
Das Feuer war langsam heruntergebrannt. Die Nachtluft war still und kalt.
«Es sind wirklich Dämonen, wie du behauptet hast», sagte Chanat schließlich.
«Es gab niemanden, der sich ihnen entgegengestellt hätte. Vielleicht gibt es noch immer niemanden.»
«Das Mädchen», setzte Attila an. «Hat sie überlebt?»
Die alte Frau zwang sich ein bitteres Lächeln ab. «O ja. Sie lag einen Tag und eine Nacht lang auf der Erde. Dann erhob sie sich, fand den schmächtigen Körper ihres Sohnes im Gras und hüllte ihn in ein Tuch. So lief sie den ganzen Weg zurück zum Lager ihrer Leute. Sie glaubte, das Herz würde ihr zerspringen.
Aber als sie in das Lager kam und ihr Mann auf sie zugerannt kam – ihr Adler, ihr Löwe, mit funkelnden dunklen Augen, weißleuchtenden Zähnen und fliegendem schwarzem Haar –, so überglücklich, sie wiederzusehen, doch dann musste er mit eigenen Augen das Bündel sehen, das sie in den Armen trug, in ein blutiges Tuch gehüllt …
Da brach ihr endgültig das Herz.»
Sie blickte zu ihren Zuhörern auf. Alle wandten sie in einer Bewegung die Augen ab, unfähig, ihrem Blick standzuhalten.
«Von diesem Tag hat sie sich bis heute nicht mehr erholt.»
Die Herzen der Krieger waren schwer. In ihren Ohren erklang ein Lied von Asche.
«Der Mann», fragte Attila schließlich mit leiser Stimme. «Ihr Ehemann.»
«Er sprach nie wieder mit ihr. Er hat ihr nicht verzeihen können. Am nächsten Tag ritt er allein gegen seine Feinde aus, allem Flehen zum Trotz. Danach sah sie ihn nie wieder.»
Die alte Frau ließ den Kopf sinken. Ein langes Schweigenmachte sich breit. Noch immer im Schneidersitz auf dem schmutzigen Boden der Hütte sitzend, drehte sich die alte Frau schließlich um. Sie griff hinter sich und
Weitere Kostenlose Bücher