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Der schwarze Krieger

Der schwarze Krieger

Titel: Der schwarze Krieger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Napier
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zog ihren Umhang und Schal beiseite, dann knöpfte sie ihr Gewand auf und öffnete es ein Stück. Direkt neben ihrem knochigen Rückgrat konnten sie im schwachen Feuerschein den Umriss einer alten Pfeilwunde erkennen. Nun verstanden sie. Sie hüllte sich in ihre Gewänder und drehte sich wieder zu ihnen um.
    Dann gab sie ein Zeichen, dass man ihr den
arak
reichen solle, nahm einige tiefe Schlucke aus der Schale und stellte sie wieder ab. Ihre Augen schwammen im Licht des verlöschenden Feuers.
    «O ja, die Trauer in dieser Welt ist groß», seufzte sie endlich. «Und ich bin nicht so alt, wie ihr denken mögt. An manche Türen klopft das Alter früher als an andere.»
    Die Krieger tranken in tiefen Zügen
arak
. Sie hatten nichts zu sagen, keinen Trost. Sie hatte viel erlebt, mehr, als sie vielleicht jemals erleben würden.
    «Aber sollen wir die Götter beschuldigen und ihnen Vorwürfe machen?», fuhr sie fort, nun wieder mit stärkerer Stimme. «Sie erschufen die Kutriguren, wie sie sind, und wir können nicht wissen warum. Es gibt andere, genauso furchterregende Stämme, in den östlichen Wüsten, in den Wäldern im Norden. Wir wissen nichts über ihre Sitten. Sollen wir also den Göttern vorwerfen, dass sie uns aus leidgetränktem Lehm geformt und uns auf die leidvolle Erde gestellt haben, wissend, was das Schicksal jedem von uns bringen wird? Sollen wir jammern wie Kinder und auf ewig Hass und Groll für die Götter hegen, wie ein dummes Kind seinen Eltern gegenüber? Sollen wir unser Schicksal auf ewig verfluchen? Bringt eine Mutter ihr Kind nicht in einemBlutschwall zur Welt, beide unter Tränen, und ist ihr nicht vollauf bewusst, welche Trauer, welches Leid und schließlich welchen Tod ihr Kind erdulden muss? Wie die Dinge nun einmal sind, gibt sie all das ihrem Kind mit, wenn sie es zur Welt bringt. Aber lügen wir etwa, wenn wir sagen, diese Mutter liebt ihr Kind? Würde für es sterben, wenn sie könnte?» Sie nickte und gab ein ausdrucksloses Lächeln von sich. «O ja. Es gibt nur wenige Mütter auf Erden, die nicht für ihr Kind sterben würden. Mütter sind so.» Sie nickte erneut.
    «Es gab eine alte Frau, die mir viel beigebracht hat, als ich jung war. Auch sie eine Priesterin, die oft mit Mutter Naga wandelte und Zwiesprache hielt. Eines Tages machten wir einen Spaziergang und kamen an einem jungen Hasen vorbei, den ein jüngerer Adler fest umklammert hatte. Der Adler war auf den Hasen herabgeschossen und hatte ihn ergriffen. Jetzt starrte er ihn dumpf an, als wüsste er nicht, wie man tötet. Vielleicht war es der erste Hase, den er gefangen hatte. Darum war der Hase nicht richtig getötet worden wie von einem erwachsenen Adler, sondern lag verwundet da und schrie vor Schmerzen. Er schrie. Und ich, ganz Kind, das noch nichts Böses kannte, ich wandte mich an die alte Frau, die ich liebte, und fragte, warum die Große Mutter nicht käme, um den armen Hasen zu retten. Wie konnte Naga den Hasen so leiden lassen? Sie wandte sich mir zu und berührte meinen Kopf. Auf meine kindische Art glaubte ich in diesem Moment wohl, dass die alte Frau Naga selbst war. Und sie sagte, die Stimme ganz sanft und behutsam, ich höre sie noch wie heute, sie sagte, dass die Große Mutter nicht in einem weitentfernten Himmel wohnte und alles überwachte. Sie sei keine kalte Himmelskönigin, keine erhabene Prinzessin, keine listige, Pläne schmiedende Urmacht. Sie sei hier. Siewohne bei uns und leide mit uns. Sie wohne in dem Hasen. Sie wohne im Schrei des Hasen.»
    Die alte Frau nickte. «Ich glaube daran.»
    Die Krieger tranken, sannen den Worten nach und legten sich dann schlafen.

6.
Der Tribut
    Attila stand auf, als die Dämmerung anbrach. Er streckte die Arme aus, dehnte den Brustkorb und lächelte in die aufgehende Sonne.
    Es war ein guter Tag zum Kämpfen.
    Im ersten Licht ritt er aus und inspizierte das Dorf und das weite, steinige Plateau, auf dem es lag. Bald schon würde der Angriff erfolgen.
    Kurz darauf war Orestes an seiner Seite. «Also haben sie uns noch nicht aufgespürt?»
    Attila hielt gegen den schieferfarbenen Horizont Ausschau. «Oder sie wollen es noch nicht. Wissen sie überhaupt, dass wir da sind?»
    «Was, wenn sie uns sofort verfolgt und in der Nacht angegriffen hätten?»
    «Das wäre herrlich gewesen.» Er wandte sich seinem griechischen Blutsbruder zu und lachte laut auf. «Wir wären natürlich bis auf den letzten Mann niedergemetzelt worden. Aber es wäre herrlich gewesen!»
    Orestes wandte

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