Der Schwarze Mandarin
er, daß Bai Juan Fa zwar für ihn arbeiten würde, aber gleichzeitig sein Todfeind war. Das aber wäre eigentlich das Todesurteil für Rathenow gewesen. Später, dachte Min, später. Bai Juan Fa – du ahnst nicht, was du alles für mich tun mußt. Jetzt um so mehr! Keiner darf einem Min Ju drohen, ohne das Kaiserschwert im Nacken zu spüren …
Rathenow war froh, sicher nach Grünwald gekommen zu sein. Er war wie ein Wilder gefahren, wie ein Besoffener im Zickzack, und jeder Polizist, der ihn angehalten hätte, hätte ihn sofort aus dem Verkehr gezogen, auch wenn das Röhrchen sich nicht verfärbt hätte. Ein Mensch mit einem so massiven seelischen Schaden gehört nicht auf die Straße. Er sieht nicht mehr, wie er fährt; er vergißt seine Umgebung; er weiß nicht mehr, wer er ist.
Er schloß die Tür auf, schwankte in die große Diele und dann hinüber in die Bibliothek, schwenkte die eingebaute Hausbar aus und stierte auf die Batterie Flaschen.
Sauf dich dumm und dusselig – was bleibt dir noch? Doch dann sagte ein anderes Ich: Was bringt das? Besaufen ist keine Lösung! Du verdrängst nur die Wahrheit, aber mit der Wahrheit mußt du leben! Du kannst nicht fliehen, du kannst nur gehorchen. Denn sie werden Liyun quälen, sie haben es dir oft genug gesagt. Und du wirst immer und immer wieder tun, was sie wollen, weil du damit Liyun retten kannst.
Er starrte auf das Telefon, nahm den Hörer auf und wählte die Nummer von Dr. Freiburg. Nach zehnmaligem Durchläuten meldete sich der Arzt.
»Freiburg.«
»Kann ich zu dir kommen?« fragte Rathenow mit einer Stimme wie ein Sterbender.
»Hans? Bist du besoffen? Schau auf die Uhr. Halb zwei …«
»Ich muß zu dir kommen.«
Rathenow hatte keine Kraft mehr. Er warf den Hörer auf die Gabel, verließ das Haus, setzte sich in den Wagen und hoffte, daß ihm auf dem Weg zu Freiburg keine Polizeistreife begegnete. Aber er schaffte es, ohne Unfall seinen Freund zu erreichen. Freiburgs Haus war hell erleuchtet. Als Rathenow bremste und aus dem Wagen stieg, erschien er selbst in der Tür. Er wollte gerade wieder zu einem seiner Sprüche ansetzen, aber dann schwieg er betroffen. Er faßte Rathenow unter und half ihm ins Haus.
»Junge, was ist los?« rief er. »Du siehst ja schrecklich aus! Hast du eine Malaria mitgebracht? Hast du einen Anfall?«
»Ich bin gesund.«
»Das sehe ich. Und wie gesund du bist! Wenn ich dich nicht festhalte, fällst du hin. Komm in die Praxis. Ich mache zuerst ein EKG. Hast du Fieber?« Er legte die Hand auf Rathenows Stirn. »Nein. Fieber hast du nicht. Keine Malaria. Hast du etwas Verdorbenes gegessen? Wo warst du heute abend? Komm, leg dich hin!«
»Verdammt! Ich bin nicht krank!« Rathenow lehnte sich gegen die Wand. Vor seinen Augen verschwamm alles. »Man hat mir meine Seele genommen.«
»Wie bitte?« Freiburg schnupperte – kein Alkoholgeruch.
»Ich bin eine leere Hülle! Ich bin nicht mehr ich.«
»Hans!« Freiburg sah Rathenow streng an. »Ehrlich, spuck es aus: Haben sie dir in China Drogen gegeben? Bist du high?«
»Red keinen Unsinn.« Rathenow ging Freiburg voraus in das Ordinationszimmer – seit 22 Jahren kannte er diesen Weg – und setzte sich auf die Untersuchungsliege. »Du brauchst keine spektakulären Diagnosen zu stellen, ich bin einfach seelisch kaputt.«
»Und wodurch?« Dr. Freiburg setzte sich ihm gegenüber auf einen Hocker. Er betrachtete Rathenow wie einen Kranken mit einem auffälligen Ausschlag. »Was haut dich um?«
»Kannst du schweigen?«
»Der Zentralfriedhof in Wien ist gegen mich ein Jazz-Festival!«
»Ich auch.«
»Was willst du dann nachts um halb zwei bei mir?«
»Mit dir reden.«
»Indem du schweigst? Das ist eine neue, wirklich individuelle Art der Unterhaltung. Konversation durch Stille. Das solltest du dir patentieren lassen.«
»Mir genügt, daß du da bist. Daß ich dich sehe. Daß ich weiß, ich habe einen Menschen um mich, der mich mag.«
»Junge, erschreck mich nicht! Bist du in China schwul geworden?«
»Manchmal könnte ich dich ohrfeigen.« Rathenow stierte vor sich hin auf den Kunststoffboden. Platten aus Hartvinyl, blau mit grauen Streifen. »Ich bin am Ende – und muß neu anfangen und total vergessen, wer ich einmal war. Der Name Rathenow ist nur noch eine Postadresse in München. Ich bin Bai Juan Fa …«
»Es scheint wirklich ernst mit dir zu sein.« Dr. Freiburg beugte sich vor und starrte Rathenow ratlos an. »Erzähl weiter …«
Der alte Trick der Psychiater:
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