Der Schwarze Mandarin
Fotos. Plötzlich hatte er das Gefühl, seine Beine seien gelähmt, und er konnte einfach nicht aus dem Wagen steigen.
Er drehte sich zu Ninglin und faßte seinen Arm.
»Zahlt er nicht?« fragte er wieder.
»Wir werden sehen.«
»Du willst ihn bestrafen?«
»Warte es ab.«
»Ohne mich! Ich gehe nicht mir dir in das Lokal!«
»Du gehst …«
»Ich weigere mich!«
»Das Wort weigern gibt es bei uns nicht!«
»Keiner kann mich zwingen …«
»Min Ju wird Liyun bestrafen müssen.«
Rathenow ballte die Fäuste. Er fühlte den Drang in sich, Ninglin so zusammenzuschlagen, daß er für eine lange Zeit ausgeschaltet war. Ja, er begriff in diesem Moment, daß man einen Menschen umbringen kann, ohne die geringste Hemmung und Reue. Aber was brachte das ein? Ninglin war nicht zu töten, nicht von ihm, weil er schneller war und ein guter Kung-Fu-Kämpfer, der sich mit einem Schlag befreien konnte. Und womit soll man ihn töten, wenn man keine Waffe hat, nur seine beiden Hände? So ließ es Rathenow zunächst darauf ankommen und blieb sitzen, als Ninglin aus dem Wagen stieg.
»Mitkommen!« befahl er mit rauher Stimme und winkte.
Rathenow schüttelte den Kopf. »Nein!«
»Denk an Liyun, Bai Juan Fa!«
»Ihr irrt euch alle! Ich liebe sie ja gar nicht, sie ist mir völlig gleichgültig!« schrie Rathenow aus dem Wagen.
Ninglin schüttelte den Kopf, was soviel heißen sollte wie: Halte uns nicht für Idioten – und dann zuckten seine Arme vor, krallten sich seine Finger in Rathenows Rock und rissen ihn mit einer Kraft aus dem Auto, die niemand Ninglin zugetraut hätte. Rathenow hieb auf die Unterarme des Chinesen ein, befreite sich dadurch von seinem Griff und taumelte gegen die Karosserie.
»So spricht man nicht mit einem Bruder!« sagte Ninglin monoton. »Du mußt noch mehr lernen, als Min Ju glaubt.« Er trat Rathenow blitzschnell gegen das Schienbein. Ein ungeheurer Schmerz zuckte bis in sein Gehirn und das Erschrecken: Er hat mir das Bein gebrochen. Mit einem Tritt. Er hat mein Schienbein zertrümmert, mit nur einem einzigen Tritt. Er hat mich zum Krüppel gemacht!
Rathenow schwankte, vor seinen Augen verschwamm alles, er stützte sich auf die Motorhaube und krümmte sich. Sein linkes Bein schien zu verbrennen. So muß es auf einem Scheiterhaufen gewesen sein, dachte er völlig unmotiviert. Die ersten Flammen erfassen das Bein des Verurteilten.
»Komm!« hörte er Ninglins verhaßte Stimme.
»Jetzt kann ich überhaupt nicht!« stöhnte Rathenow.
»Versenk dich in dich und besiege den Schmerz.«
»Ich bin kein Chinese!«
»Du sagst es. Du bist nicht mal den Dreck unter meinen Fingernägeln wert!« Ninglin riß Rathenow von der Motorhaube weg und ließ ihn dann los. Rathenow schwankte wie ein Betrunkener. Nicht hinfallen! befahl er sich selbst. Nur nicht hinfallen! Tu ihm diesen Gefallen nicht! Bleib stehen!
»Komm!« sagte Ninglin wieder.
Rathenow versuchte den ersten Schritt. Es war wie ein Tritt auf glühende Kohlen, und Tränen traten ihm in die Augen. Aber dann geschah das Seltsame: Ninglin faßte ihn unter, stützte ihn, und so gingen sie langsam zum Eingang des ›Lotos‹. Als sie die Doppeltür aufstießen, grinste ihnen überlebensgroß der fette Bao-Dai entgegen, der Gott des Genusses und der Zufriedenheit. Im Hintergrund des Lokals stand ein großes Aquarium mit Beleuchtung. Eine Menge Fische schwammen darin herum. Ninglin lächelte, aber es war ein böses Lächeln.
»Wie es sein soll«, sagte er leise zu Rathenow. »Aber der falsche Gott und die falschen Fische. Yan Xiang verhöhnt uns! Er ist eben doch nur ein dummer Mensch.«
Sie betraten den großen Gastraum und sahen sich um. Nur noch zwei Gäste saßen an einem Tisch in einer Nische und tranken Bier. Zwei Deutsche, die von den Eintretenden kaum Notiz nahmen und sich weiter angestrengt unterhielten. Ninglin steuerte auf einen Tisch in der Nähe des Aquariums zu, und Rathenow folgte ihm humpelnd und das linke Bein nachziehend.
Sie wollten sich setzen, als ein Kellner in schwarzer Hose und rotem Dinnerjackett erschien.
»Bedaure, meine Herren«, sagte er in leidlichem Deutsch, »aber die Küche ist geschlossen.«
»Wir wollen nichts essen!« antwortete Ninglin auf chinesisch.
Der Kellner schüttelte den Kopf. »Wir haben schon geschlossen!« Er sprach nun auch seine Muttersprache.
»Und die zwei da hinten?« Ninglins Stimme änderte sich in ihrem Klang – sie wurde heller und eisiger.
Der Kellner winkte ab. »Die gehen gleich. Sind
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