Der Schwarze Mandarin
auf!« rief er laut. »Wenn ich heute abend wiederkommen muß, nehme ich mir eine Blume aus deinem blühenden Garten!« Und leiser sagte er zu Rathenow: »Er hat drei Töchter. Er will bestimmt nicht eine verlieren.«
In der Tür wurde ein Schlüssel umgedreht. Bevor sie geöffnet wurde, drückte Ninglin sie auf. Von der Straße aus konnte man das nicht sehen – ein Vorgarten mit hohen Büschen verdeckte die Sicht auf den Eingang. Im Vorraum prallte ein Chinese zurück, ein kleiner, dicker Mann, dem die Angst aus den Augen sah. Rathenow und Ninglin traten ein. Ninglin schloß die Tür hinter sich wieder ab.
»Wo hast du dein Gehirn gelassen?« fragte Ninglin den Wirt. »Hast du es dir beim Kochen verbrüht? Jiasong, soll ich dich von dem unnützen Ding befreien?«
»Tritt ein!« Der Gastwirt, den Ninglin Jiasong nannte, ging voraus. Ninglin hielt Rathenow am Ärmel fest.
»Das mußt du vor allem anderen wissen: Siehst du den Buddha mit seinem rosigen Gesicht am Eingang?«
»Ja.«
»Und dort hinten das große Aquarium mit den vielen Fischen?«
»Ja.«
»Die schönen Fische sind nur Dekoration. Wichtig sind nur die chinesischen Goldbarsche … siehst du sie?«
»Ja.«
»Beides zusammen bedeutet in unserer stummen Sprache: ›Hier zahlt man Schutzgeld ohne viele Fragen.‹ In allen China-Lokalen wirst du die lächelnden Götter und die Aquarien mit den Goldbarschen sehen, wenn sie unter unserem Schutz stehen. Wer von uns noch nicht betreut wird, hat kein Aquarium und keine Begrüßungsgötter.«
»Und wenn sie das aufstellen, ohne Schutzgeld zu bezahlen … als Täuschung?«
»Überleg, welch einen Unsinn du redest! Wer die Goldbarsche pflegt, zahlt! Da gibt es kein Verstecken. Kommst du als Grassandale in ein nicht auf der Liste stehendes Lokal und siehst das Aquarium und den Gott an der Tür, dann muß er zahlen.«
»Und wenn nicht?«
»Dann wird Bruder Min mich rufen.«
»Und wenn er keine Goldbarsche schwimmen läßt?«
»Dann wird er es nachholen. Jeder Goldbarsch steht für einen bestimmten Betrag. An ihnen erkennst du, wie hoch die Schutzgebühr ist. Unsere Kontrolle ist streng. Jeder Schützling ist die Verpflichtung eingegangen, nicht nur die Grundgebühr zu zahlen, sondern bei einer Steigerung seiner Einnahmen dem Wert entsprechend mehr Goldbarsche auszusetzen.«
»Ich soll also immer die Fische zählen?«
»Nur Stichproben. Ab und zu, um Schrecken zu verbreiten. Die meisten sind Halunken und wollen uns betrügen. Aber es gelingt ihnen nicht. Jedes Jahr prüfen wir ihre Bücher wie die Steuerfahnder. Die Schutzgebühr ist gleichzusetzen mit einer Steuer – einer Überlebenssteuer. Das weiß jeder Chinese, der einen eigenen Betrieb eröffnet.«
Sie gingen weiter in das schön eingerichtete, mit großen Wandbildern geschmückte Lokal und sahen Jiasong hinter der Theke stehen. Mit finsterer Miene musterte er Rathenow. Ihm war noch rätselhaft, was ein Deutscher neben Ninglin zu suchen hatte. Aber er wurde sofort aufgeklärt und begriff trotzdem nicht, was er hörte.
»Jiasong«, sagte Ninglin und schob Rathenow nach vorn. »Ich stelle dir Hong Bai Juan Fa vor, einen lieben Bruder, der sich um deinen Schutz kümmern wird. Ich habe eine andere Aufgabe übernommen, aber freue dich innerlich nicht zu früh. Du wirst mich wiedersehen, wenn du dem neuen Cho Hai nicht die nötigen Ehren erweist.« Er wandte sich zu Rathenow und nickte ihm zu. »Wieviel möchtest du zahlen? Auf der Liste steht …«
»3.000 Mark für den vergangenen Monat«, sagte Rathenow fast mitleidig.
Jiasongs Gesicht zerfloß im Kummer. Seine Augen schwammen. Bloß nicht weinen! dachte Rathenow. Bloß keine Tränen! Wenn ein Mann ohne Trauer weint, sieht er keinen Ausweg mehr. Er weint aus Angst.
»Das … das kann ich nicht«, zitterte Jiasongs Stimme. »Das ist zuviel, viel zuviel.«
»Soll mein Bruder deine Fische zählen?«
»Sie entsprechen nicht der Wahrheit. Glaub mir. Es waren so viele im letzten Jahr, da hatten wir einen regnerischen Sommer. Aber in diesem Jahr, bei dieser Sonne! Gott wird es bestätigen: Die Leute sitzen lieber in den Biergärten als bei mir.«
Das ist logisch, dachte Rathenow. Das muß auch Ninglin einsehen. Ich würde auch lieber unter schattigen Kastanien sitzen als in einem geschlossenen Raum. Trotz Klimaanlage!
Aber Ninglin sah es anders. »Jiasong«, sagte er mit dunklerer Stimme, »du bist ein fettes Schwein. Und fette Schweine sind träge. Und ein fettes Schwein trägt soviel Speck mit
Weitere Kostenlose Bücher