Der Schwarze Mandarin
eine Illusion. So wollen sie China sehen – China aber ist ganz anders …«
»Das weiß ich. Und wie kamst du zu dem Namen Aisin Ninglin?«
»Ninglin fand ich lustig. Und Aisin nennen sich die Nachkommen des letzten Kaisers. Ich habe mich Ninglin und Aisin genannt, als ich vierzehn Jahre alt war und Ye Yimou gestorben war. Ich habe ihn eines Nachts erwürgt … mit einem Stahldraht, den ich im Hafen gestohlen hatte.« Ninglin griff in die Tasche und holte eine Zigarettenpackung heraus. Er hielt sie Rathenow hin. »Auch eine?«
»Nein, danke. Ich rauche nur Zigarren … abends nach dem Essen.«
»Feiner Pinkel!« Ninglin steckte sich eine Zigarette an und sog den Rauch tief in sich hinein. »Mit fünfzehn war ich bereits Mitglied von 14K«, sagte er plötzlich und blies den Rauch gegen die Autoscheibe. »Ich hatte da schon neun Aufträge zur vollen Zufriedenheit der Familie ausgeführt. Das war mein Ausweis, daß ich ein guter Triade werden würde. Man hatte mich beobachtet, wie ich im Hafen einen dieser Handelsmanager, auch so ein geiles Schwein, in einen Schuppen lockte, nachdem ich ihm meine offene Hose gezeigt hatte. Im Schuppen, als er seine Hose herunterstreifte, habe ich ihn in den Bauch gestochen. Er hat wie ein Schwein gequiekt. 2.000 Dollar, amerikanische, keine Hongkong-Dollar, hatte er in der Brieftasche. Er war mein bis dahin bester ›Kunde‹. Als ich aus dem Schuppen hinausgehen wollte, standen zwei Chinesen in der Tür und sagten nur: ›Komm mit!‹ Was sollte ich tun? Sie hatten Pistolen im Gürtel und ich nur ein Messer. Sie fuhren mit mir hinüber nach Kowloon, und in einem bekannten Handelshaus empfing mich der Gao Lao der Triaden von Hongkong. Jeder kannte ihn. Er galt als ehrenwerter, reicher Mann, der regelmäßig vom britischen Gouverneur eingeladen wurde und selbst große Feste gab. Und was sagte er zu mir? ›Du bist ein begabter Junge, habe ich gehört. So etwas können wir brauchen. Wir werden für dich sorgen.‹ Ich war stumm vor Verehrung und Dankbarkeit … nie mehr hungern, nicht mehr in der Rattenstadt wohnen, ein richtiger Mensch sein, eine Arbeit haben, ganz gleich, was es sein würde. Kannst du dir vorstellen, wie glücklich ich war? Ich bin in einen Tempel gelaufen und habe Gott für diese Gnade gedankt.« Ninglin rauchte wieder in hastigen Zügen. »Nach einem halben Jahr hatte ich viele ›Aufträge‹ ausgeführt, lautlos mit einem neuen, beidseitig geschliffenen Stahlmesser oder mit einer schallgedämpften Pistole. Ich hatte das Schießen schnell gelernt. In diesem Jahr leistete ich auch die 36 Blut-Eide und wurde ein Hong, ein Bruder der großen Familie. Und der Gao Lao sagte eines Tages zu mir: ›Du wirst nach Europa fahren, Bruder, nach Deutschland. Man braucht dich da. Du wirst nachts über die Grenze gebracht, bekommst ein Ticket nach München und meldest dich bei Min Ju im Restaurant ›Der Schwarze Mandarin‹. Dort wirst du Deutsch lernen. Du bist ein begabter Junge, du wirst es schnell begreifen.‹ Und so kam ich nach München, lernte Deutsch, wurde eine Grassandale und Mins bester Bruder. Das war vor elf Jahren. Und ich habe meinen Daih-Loh niemals enttäuscht.«
Er zerdrückte den Zigarettenstummel im Autoaschenbecher und steckte dann die Kippe in seine Hemdtasche.
»Eine Angewohnheit von früher«, sagte er mit breitem Grinsen. »Nichts wegwerfen, was später vielleicht nützlich sein könnte. Aus zehn Kippen kann man eine neue Zigarette drehen. Das habe ich gelernt, und das vergißt man sein Leben lang nicht. Auch mein erstes Messer habe ich gefunden. An der Klinge klebte noch Blut. Jemand hatte es weggeworfen, vielleicht auf der Flucht vor der Polizei. Es lag in der Nähe unserer Rattenhöhle in einem Haufen von verfaultem Gemüse. Es war ein gutes Messer. Es schnitt in einen Körper, als sei es dafür gemacht worden.«
»Und warum erzählst du mir das alles?« fragte Rathenow. Er bemühte sich, seine Stimme ruhig klingen zu lassen.
»Ich denke, du willst ein Buch darüber schreiben?«
»Ich könnte es – aber keiner wird es mir glauben.«
»Es ist doch die Wahrheit.«
»Wennschon – aber sie übertrifft unsere Vorstellungskraft. So etwas gibt es nicht, wird der Leser sagen.«
»Das gibt es doch. Ich sitze doch neben dir! Und ich kann dir noch viel mehr erzählen. Tausend Seiten, sage ich!« Ninglin blinzelte Rathenow zu. Er war wie umgewandelt. Der eiskalte Killer wurde wie ein vertrauter Freund. »Beteiligst du mich an deinem
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