Der Schwarze Mandarin
küßte ihn auf beide Augen und sagte: »Ich bin immer für dich da. Wie schön ist das Leben …«
*
An einem der letzten Julitage klingelte das Telefon. Rathenow war allein, Franziska war in der Apotheke. Eine forsche Frauenstimme fragte: »Sind Sie Dr. Rathenow?«
»Ja. Ich bin selbst am Apparat.«
»Hier ist Susanne Frantzen.«
»Worum handelt es sich?«
»Ich möchte die Bitte eines lieben Besuches erfüllen – aber hören Sie selbst …«
Rathenow hörte ein hastiges Flüstern am Telefon, und dann schlug ihm eine helle, glockenreine Stimme ans Ohr. Eine Stimme voll Fröhlichkeit und unterdrücktem Lachen.
»Wie geht es Ihnen, Herr Rathenow?«
Für einen Moment hielt Rathenow den Atem an. Sein Kopf, ja, sein ganzer Körper schien zu explodieren. Und dann schrie er und schnellte von seinem Stuhl hoch: »Liyun!«
»Ja, hier ist Wang Liyun.«
»Himmel, wo bist du?«
Er sagte unwillkürlich du. Wie oft hatte er in den vergangenen Monaten in Gedanken mit ihr gesprochen – vor ihren Fotos, vor ihrem Fax, im Wachen und in Träumen, immer, immer wieder: Liyun, wo bist du? Bis Franziska in sein Leben trat.
»Ich bin in Saarbrücken.«
»Saarbrücken? Liyun, was machst du in Saarbrücken? Mein Gott … du bist in Deutschland? Wie kommst du nach Saarbrücken?«
»Ich bin Gast bei der Familie Frantzen. Sie haben mich eingeladen.«
»Sie haben dich … seit wann bist du in Deutschland?«
»Seit acht Tagen.«
»Und jetzt erst rufst du an? Liyun! Ich komme sofort nach Saarbrücken!«
»Ich habe angerufen, weil Frau Frantzen mich dazu gedrängt hat. Ich habe erzählt, daß ich Sie kennengelernt habe in Kunming, und da hat Frau Frantzen gesagt: Ruf Herrn Rathenow an, er wird sich bestimmt freuen.«
»Freuen? Ich gehe an die Decke vor Freude. Liyun …«
»Ich wollte Sie aber nicht anrufen.«
»Warum denn nicht? Liyun …«
»Ich habe gedacht, Sie haben keine Erinnerung mehr an Wang Liyun. Sie haben mich längst vergessen.«
»Vergessen? Was sagst du da? Ich habe auf eine Nachricht von dir gewartet. Wochen um Wochen. Und dann habe ich gedacht: Sie will nichts mehr von dir wissen. Du warst nur ein flüchtiges Erlebnis für sie …«
»Das habe ich auch von Ihnen gedacht. Ein so berühmter Mann und eine kleine Chinesin. Auch ich habe immer gewartet …«
»Aber wieso denn? Ich habe angerufen in deinem Büro und gebeten, dir zu sagen, daß ich dich sprechen möchte.«
»Mir bat keiner etwas gesagt.«
»Und die deutsche Botschaft hat dir doch die Besuchsanträge geschickt?«
»Ich habe nichts bekommen.«
»Das gibt es doch gar nicht. Ich habe immer gedacht: Sie hat die Formulare nicht ausgefüllt; sie will gar nicht kommen.«
»Und ich habe gedacht: Der berühmte Mann hat den Antrag nicht geschickt. Er will mich gar nicht in München haben.«
»Verrückt! Verrückt! Mein Brief an die Botschaft muß verlorengegangen sein. Und der Antrag von Herrn Frantzen ist angekommen?«
»Ja. Es ging ganz schnell und ohne Schwierigkeiten. In zwei Wochen war alles erledigt.«
»Liyun! Es ist so wunderbar, daß du angerufen hast. Ich hatte keine Hoffnung, dich wiederzusehen.«
»Ich auch nicht.«
»Es war alles ein Mißverständnis – und verdammte Sturheit! Auch von deiner Seite.«
»Ein chinesisches Mädchen läuft keinem Mann nach.«
»Bei uns war es doch etwas anderes …«
»Ja. Sie der berühmte Mann – ich, das kleine chinesische Mädchen …«
»Liyun, sag das nicht immer wieder! Du bist das Wertvollste in meiner Welt. Du bist – wie ihr sagen würdet – ein Diamantensee. Bist du allein am Telefon?«
»Ja.« Ihre Stimme klang jetzt ganz klein und zögernd. »Frau Frantzen hat mich allein gelassen.«
»Woher kennst du die Frantzens?«
»Ich habe sie als Einzelreisende betreut. Er ist Rechtsanwalt. Ich habe ihnen Kunming und den Steinwald gezeigt. Sie haben mich auch eingeladen, und ich habe gedacht: Das sagen sie alle – auch sie werden schweigen, wenn sie wieder in Deutschland sind. Und dann plötzlich bekomme ich die Nachricht von der deutschen Botschaft in Beijing. Sie laden mich wirklich ein! Sie bezahlen die Flüge, sie unterschreiben die Bürgschaft. Da bin ich sofort zu meinem Chef gelaufen und habe ihm alles vorgelegt. Er hat gesagt: ›Du kannst nach Deutschland fahren. Es nützt deinen Sprachkenntnissen. Ein Vierteljahr – das kann ich erlauben. Aber dann mußt du zurückkommen, wir brauchen dich!‹ Und dann bin ich von Kunming nach Bangkok und weiter nach Frankfurt geflogen. Dort
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