Der Schwarze Mandarin
bist?«
»Ja!«
»Und warum?«
»Ich habe meine Freiheit und meine Selbstachtung verloren.«
»Und hast dafür die Liebe einer großen Familie gewonnen. In China ist die Familie das Wichtigste im Leben. Ein Mensch ohne Familie ist wie eine Schnecke ohne Haus, wie ein Boot, das keinen Hafen hat.«
»Wie geht es Liyun?« fragte Rathenow plötzlich.
Min Ju sah ihn erstaunt an. »Gut. Du weißt es doch.«
»Ich habe seit Monaten nichts mehr von Liyun gehört. Kein Brief, kein Telefongespräch …«
»Ich kann dir versichern, daß es ihr gutgeht. Sie macht weiterhin ihre Arbeit, führt Touristengruppen durch Yunnan und ist ein braves Mädchen.« Und dann konnte er es sich nicht verkneifen, hinzuzufügen: »Die Haare und der Fingernagel sind längst nachgewachsen.«
»Ich habe euch auch keine Gelegenheit mehr gegeben, sie noch einmal zu quälen.«
»Du bist ein Weiser geworden. Jetzt bist du eingetaucht in die chinesische Weisheit. Du handelst jetzt unbewußt nach einer der 36 Strategien, die schon vor 300 Jahren unser Vorgänger, der Geheimbund ›Rote Pforte-Gesellschaft‹, im Kampf gegen die verhaßte Mandschu-Dynastie der Qing einsetzte. ›Trübe das Wasser, dann kannst du bequem die ihrer Sicht beraubten Fische fangen.‹ Das ist Lehrsatz Nummer zwanzig. Trübe weiter das Wasser, fang die Fische und bring sie zu mir!«
*
In Kunming hatte Liyun das Warten aufgegeben. Aber sie kehrte auch nicht zu Shen Zhi, dem Journalisten in Dali, zurück, und sie wehrte sich gegen jede Versuchung.
Ein paarmal noch kam eine innere Erregung über sie, ein unwiderstehlicher Drang, Rathenow noch einmal, ein letztesmal, zu schreiben oder ihn anzurufen – aber dann siegte der Stolz: Was willst du? Er ist ein Fremder! Er paßt nicht zu einer Chinesin! Man kann träumen – aber man weiß auch, daß Traumbilder verblassen, wenn die Sonne scheint.
Nur die Erinnerung bleibt, aber auch sie ist nur wie ein Blatt Papier, auf dem die Schrift verbleicht, wenn Sonnenstrahlen darauf scheinen …
Weihnachten war Rathenow allein zu Hause. Er saß vor einem kleinen Tannenbaum, den ihm die Zugehfrau geschmückt hatte, und ihm wurde bewußt, daß seine selbstgewählte Einsamkeit ihn über kurz oder lang seelisch zerbrechen würde.
Nein! Ich will nicht an Liyun zugrunde gehen, schrie er innerlich. Meine Persönlichkeit habe ich bereits verloren, aber das Leben, mein bißchen Leben, das mir noch bleibt, gehört mir! Mir allein. Ich will nicht, daß ich eines Tages sterbe und man mich nur durch Zufall entdeckt. Die paar Jahre, die mir noch bleiben, will ich genießen wie einen alten Wein …
Silvester feierte er im Tennis-Club. Er lernte dort endlich die aparte Apothekerswitwe kennen. Groß, schlank, mit rötlichem Haar und grünen Tigeraugen, biegsam und hungrig. Sie hieß Franziska Wellenbruch, und wie eine Welle rollte sie in seine Arme. Dr. Freiburg ließ bei einem Besuch Rathenows eine Flasche Champagner knallen.
»Endlich haben wir dich wieder!« rief er, wirklich glücklich. »Du bist zurückgekehrt wie Tannhäuser aus dem Venusberg. Stoßen wir darauf an! Halt! Schütt mir den Champagner nicht ins Gesicht! Das ist die falsche Stelle! Hast du schon einmal versucht, einer Frau Champagner in den Bauchnabel zu träufeln? Junge, das hat eine Wirkung! Das ist wie ein elektrischer Schlag. Mach das mal mit Franziska!«
Rathenow sagte nichts mehr, sondern betrank sich, wie so oft in vergangenen Zeiten. Er redete sich ein, mit Franziska Wellenbruch jetzt glücklich zu sei. Sie war eine zärtliche, oft auch wilde Geliebte, eine Frau mit viel Phantasie im Bett und einer Ausdauer, die Rathenow immer öfter Mühe machte. Manchmal dachte er: Ich werde sie heiraten. Ja, ich will sie dauernd um mich haben. Sie ist die Frau, die mir gefehlt hat – attraktiv, klug und an allem interessiert, was auch mich begeistert: Opern, Reisen, Musik, impressionistische Kunst, Ikonen. Es hat lange gedauert, aber jetzt habe ich eine Frau gefunden, die zu mir paßt.
Das Osterfest verlebte er mit Franziska in Salzburg und besuchte die Salzburger Festspiele, saß mit ihr in der 14. Reihe und hielt ihre Hand fest. Und wenn er dann von seinen Touren – von denen er ihr allerdings nichts erzählte – als Grassandale zurück nach Grünwald kam, legte er den Kopf in ihren Schoß, erholte sich von seinem Doppelleben und empfand ihre Küsse wie Medizin.
»Dich habe ich immer gebraucht«, sagte er einmal zu ihr. »Verlaß mich nie! Bleib immer bei mir!«
Und sie
Weitere Kostenlose Bücher