Der Schwarze Mandarin
Sommertag, der erste Regen seit drei Wochen. Die aufgeheizte Stadt dampfte. Es war schwülwarm. Viele Menschen liefen ohne Schirm herum, als sei der Nieselregen eine Art kühlende Dusche für ihre überhitzten Körper.
Rathenow stand am Bahnsteig, auf dem der Zug mit Liyun in wenigen Minuten einlaufen würde. Unruhig ging er hin und her, trank schnell noch ein alkoholfreies Bier an einem Getränkekiosk und malte sich immer wieder aus, wie er Liyun empfangen würde.
Umarme ich sie? Gebe ich ihr einen Handkuß oder nur die Hand? Wie wird sie aussehen? Hat sie sich in dem Dreivierteljahr verändert? Wie wird sie sich benehmen, wenn sie mich gleich sieht? Du lieber Himmel, sie wird mich gar nicht erkennen. Ich bin ja inzwischen mittelblond. Wird sie entsetzt sein oder schallend lachen?
Der Zug lief ein. Rathenow wartete und ging dann ein Stück den Bahnsteig hinunter. Reisende hasteten an ihm vorbei, Kofferwagen quietschten, liebevolle Begrüßungen überall, Umarmungen, Küsse, Freude … aber Liyun sah er nicht. Sie ist beim Umsteigen doch in den falschen Zug gestiegen, dachte er. Ich hätte sie von Saarbrücken abholen müssen. Es ist mein Fehler!
Und dann sah er sie. Sie war aus dem vorletzten Wagen des langen Zuges gestiegen und schleppte mühsam einen schweren Koffer.
Rathenow rannte auf sie zu. Sie trug blaue Jeans, eine gelbe Bluse und darüber eine kurze bestickte Jacke. Ihr Haar hatte sie nach hinten gebunden, von einer gelben Schleife zusammengehalten. Wunderbar sah sie aus.
»Liyun!« schrie er und breitete beide Arme aus, als er ihr näher kam. »Liyun! Liyun!«
Sie ließ den schweren Koffer fallen, sah ihm entgegen, mit großen, leuchtenden Augen, diesen Augen, von denen er monatelang geträumt hatte, und als er vor ihr stand, gab es keine Fragen mehr – er riß sie an sich und küßte sie, als wolle er sie nie wieder loslassen.
Liyun wurde rot bis unter die Haarspitzen. Er küßte sie, in der Öffentlichkeit, vor allen Leuten, und eigentlich sollte sie sich schämen, denn es war nicht sittsam, sich vor aller Augen zu küssen – aber dann erwiderte sie seinen Kuß, warf die Arme um seinen Nacken, küßte ihn mit geschlossenen Augen.
»Liyun. Liyun, du bist da – du bist endlich da! Wie habe ich auf diesen Augenblick gewartet! Liyun!«
Und er küßte sie wieder. Sie standen allein auf dem jetzt leeren Bahnsteig, umklammerten sich und sahen sich in die Augen, und die Welt versank um sie, es gab nur noch sie.
Als er sie losließ, war sie völlig atemlos. Sie sah ihn wieder mit großen Augen an und sagte dann fast schüchtern: »Wo sind Ihre weißen Haare, Herr Rathenow?«
»Das werde ich dir später erklären. Das ist eine lange Geschichte. Gefällt dir die andere Farbe?«
»Nein. Ihr Haar war wie das Eis auf den Schneebergen. Warum haben Sie das getan?«
»Später, Liyun. Fahren wir erst nach Grünwald. Ich bin so glücklich, daß du gekommen bist.«
»Ich freue mich auch, Herr Rathenow«, antwortete sie vorsichtig und zurückhaltend. »Deutschland ist ein schönes Land. So elegant und so sauber.«
Er nahm ihren schweren Koffer auf und schüttelte den Kopf. »Den hast du allein geschleppt?«
»Die Frauen in China, auf dem Land, tragen viel schwerere Lasten.«
Sie gingen durch die weite Bahnhofshalle hinaus auf den Bahnhofsplatz, wo Rathenow zufällig eine Parklücke gefunden hatte.
Liyun blieb stehen. »Oh!« sagte sie. »Sie haben einen BMW?«
»Seit zwei Monaten, einen neuen. Mit Allrad-Antrieb.«
»Wie unser Toyota in Kunming?«
»Wie ›unser Toyota‹.« Rathenow wuchtete den Koffer in den Kofferraum. »Was macht Wen Ying?«
»Er säuft und fährt wie immer. Und er hat sich einen neuen Kampfvogel gekauft. Ein schwarzer Teufel mit einem roten Kopf. Er hat bisher alle Kämpfe gewonnen. Ying fühlt sich, als habe er sämtliche Drachen besiegt.«
Sie lachte hell, und Rathenow schloß einen Moment die Augen.
Mein Gott, wie ich sie liebe! dachte er.
Er fuhr langsam nach Grünwald, um Liyun einen Teil von München zu zeigen, und als sie durch das große offene Eisentor vor sein Haus fuhren, ausstiegen und die weite Eingangshalle betraten, blieb Liyun stehen und sah sich nach allen Seiten um.
»Das ist Ihr Haus?« fragte sie mit leiser Stimme.
»Ja … und deins, solange du hier bist.«
»Das ist kein Haus – das ist ein Kaiserpalast … Sie müssen sehr reich sein.«
»Es hält sich in Grenzen. Das Haus hat meine Tante gebaut und mir vererbt.«
»Trotzdem bleibt es ein Palast
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