Der Schwarze Mandarin
wir sind so ›gottbegnadet‹, uns in die Strukturen Chinas einzumischen.«
Rathenow legte den Arm um Liyuns Schulter.
»Komm, wir müssen jetzt essen, sonst wird der Toast noch kalt und pappig, und du denkst: Himmel, was essen die Deutschen bloß für einen Fraß! Darf ich bitten, Frau Wang Liyun?«
»Ich freue mich darauf.« Und ihre Augen wurden noch dunkler als zuvor.
Sie betraten das Speisezimmer, das im Stil von Louis XIV. eingerichtet war. In der Tür blieb Liyun wieder stehen. Der Anblick des gedeckten Tisches mit dem wertvollen Porzellan machte sie sprachlos. In der Mitte des Tisches stand in einer großen silbernen Schale ein überwältigendes Blumengebinde. Auf Gerd Käfers exklusiven Geschmack kann man sich verlassen.
»Es ist alles wie ein Traum …«, sagte sie leise. »Ich habe Angst, daraus zu erwachen.«
»Du bist wach, Liyun.«
»Wenn Sie es sagen, Kaiser, muß ich es glauben.«
Liyun setzte sich vorsichtig, und Rathenow ging in die Küche, um die Vorspeisen und den Toast zu holen. Liyun sah sich nach allen Seiten um. Ihr Blick blieb an einem Gemälde hängen, das an der Seitenwand hing. Eine schöne Frau mit hochgesteckten blonden Haaren und in einem Kleid, das ihre Schultern frei ließ. Ein rotes Kleid mit Rüschen am Ausschnitt und einer weißen Rose zwischen den angedeuteten Brüsten.
Rathenow kam zurück mit Toast und Tellern und servierte, als sei er ausgebildeter Oberkellner. Liyun zeigte auf das Gemälde.
»Wer ist diese Frau?« fragte sie.
»Meine Mutter. Als das Bild gemalt wurde, war sie 23 Jahre alt und hatte gerade meinen Vater kennengelernt. Es war das Lieblingsbild meines Vaters.«
»Sie war eine wunderschöne Frau …«
»Ja. Aber sie starb viel zu früh – ich war erst sechs Jahre alt.«
»Sie haben viel von Ihrer Mutter.«
»Ich weiß nicht …«
»Doch! Die blauen Augen, die Nase, die Lippen, den Blick – und die Haare.«
»Ich hatte als Kind lange hellblonde Haare und sah manchmal aus wie ein Mädchen. Das hat mich immer geärgert. Meine Mutter hatte sich immer ein Mädchen gewünscht. Als ich geboren wurde, soll sie enttäuscht ausgerufen haben: ›Ach! Ein Junge!‹«
Und plötzlich, ehe Liyun reagieren konnte, hatte er ihre Hand genommen und küßte jeden Finger einzeln. Sie zog die Hand nicht zurück, aber über ihr Gesicht zog wieder eine leichte Röte.
»Welchen Fingernagel haben sie dir ausgerissen?« fragte er und betrachtete auch ihre andere Hand. Ihre Nägel waren unversehrt, diskret rosa lackiert.
»Was soll ausgerissen sein?« fragte sie und sah ihre Fingernägel an. »Habe ich sie schlecht lackiert?«
»Der Nagel war klein. Er muß von deinem kleinen Finger stammen.«
Liyun sah ihn verständnislos an.
»Wovon reden Sie?« fragte sie, sichtlich verwirrt.
»Sie haben dir doch in Kunming einen Nagel ausgerissen …«
»Wer?«
»Die Triaden!«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Es gibt in Kunming keine Triaden. Was habe ich mit ihnen zu tun?«
»Sie haben dir keinen Nagel ausgerissen? Und keine große Haarsträhne abgeschnitten?«
Liyun starrte ihn an, als spräche er plötzlich eine völlig fremde Sprache.
»Ich weiß wirklich nicht, was Sie meinen …«, sagte sie stockend.
Rathenow mußte sich setzen. Es traf ihn wie ein Schlag. Sie haben mich getäuscht! Sie haben mich belogen! Niemand hat Liyun etwas getan, niemand hat sie meinetwegen bestraft! Und ich habe es geglaubt. Immer und immer wieder haben sie gedroht: Wenn du einen Fehler machst, werden wir dir als nächstes das Fingerglied schicken! Und ich habe mich bluffen lassen, ich habe mich völlig in ihre Hände begeben, ich bin ein Triade, ein Hong geworden und eine Grassandale und war willenlos aus Angst, sie könnten Liyun weiter quälen. Ich habe mich weggeworfen, und ich habe die Grausamkeiten geschluckt, immer mit dem Gedanken: Das darf Liyun nie passieren! Ich tue alles, was ihr wollt, nur laßt Liyun in Ruhe. Mich haben sie zerbrochen – aber in Wahrheit haben sie Liyun nie gefoltert. Sie weiß von nichts.
»Ich habe dir viel zu erzählen«, sagte Rathenow und streichelte ihre kleinen Hände. »Warte einen Augenblick.«
Er rannte die Treppe hinauf in sein Schlafzimmer und kam mit einer Silberschale zurück. Liyun zuckte zurück, als sie den Inhalt sah.
Eine Haarsträhne, so schwarzglänzend wie ihre Haare, und ein kleiner, zierlicher Fingernagel, farblos, aber an den Rändern schon gelblich werdend.
»Was … was ist das?« stammelte sie und wandte sich entsetzt
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