Der Schwarze Mandarin
zur Strafe auf eine Hühnerfarm! Liyun, ihr Chinesen habt ja wirklich Sinn für Humor!«
Er ließ sich die Rechnung bringen, zeichnete sie ab und stand auf.
Als sie den Frühstücksraum verließen, folgte ihnen Cheng Zhaoming. Rathenow fiel es nicht weiter auf. Im Hotel herrschte jetzt um diese Zeit reger Publikumsverkehr. Eine Reisegruppe aus England hatte sich in der Halle versammelt und wartete auf ihren Reiseleiter.
Während Liyun und Rathenow zum Ausgang gingen, entschuldigte sich Liyun noch einmal. Sie war sehr verlegen.
»Bitte, verzeihen Sie die gestrige Nacht«, sagte sie und sah Rathenow dabei nicht an. »Sie werden jetzt drei Wochen lang nicht mehr belästigt werden. In Dali oder Lijiang wird es niemand wagen, und in den Gasthäusern der Minderheiten schon gar nicht. Das gibt es nur in den Großstädten.«
»Liyun, machen Sie sich keine Vorwürfe. Sie sehen doch, ich habe es überstanden. Ich komme auf keine Hühnerfarm.« Bei diesem Gedanken lachte er wieder, aber Liyun blickte ihn nun doch ernst an.
»Auch Sie wären bestraft worden.«
»Wie? Fünf Schläge mit dem Bambusstock auf den blanken Hintern?«
»Sie hätten 2.000 Yuan zahlen müssen.«
Rathenow rechnete es schnell in Dollar um – das wären zum offiziellen Kurs immerhin 600 Dollar gewesen. Ein stolzer Preis für eine ›Honigwonne‹.
»Das hätte ich überlebt«, sagte er fröhlich.
»2.000 Yuan sind ein Jahresgehalt für einen chinesischen Lehrer.«
»Auch das wird sich bald ändern, je mehr China sich dem Westen öffnet.«
»Ob das gut ist? Viele werden ihren Charakter, ihr Gesicht verkaufen.«
»Sie sind eine überzeugte Kommunistin, Liyun, nicht wahr?«
»Ich bin unter Mao aufgewachsen, die Partei hat mich studieren lassen, ich muß dankbar sein. Aber ich bin nie eine Fanatikerin gewesen. Meinen Vater haben die Roten Garden bei der Kulturrevolution geschlagen, angespuckt, er mußte die Straßen kehren, die Toiletten ausleeren, mußte eine hohe, spitze Mütze tragen, wurde verhöhnt, mußte in einem Holzverschlag neben der Schule auf der Erde schlafen, und nur Glück und einige Freunde verhinderten, daß man ihn wie viele Intellektuelle tötete. Er überlebte, aber mit einem seelischen Knacks. Ich habe das als Kind alles miterlebt. Mein geliebter Vater, ein wehrloser, geschundener Körper, jede Stunde in Gefahr, erschossen oder erschlagen zu werden. Und ich liebe meine Heimat trotzdem. Nach Maos Tod ist vieles anders, viel besser geworden. Der Kommunismus hat für uns eine andere Bedeutung gewonnen, er ist menschlicher geworden …«
»Menschlicher?« Rathenow blieb abrupt stehen. »Trotz der Todesstrafen und Zwangsarbeitslager? Trotz der Verfolgung Andersdenkender, der Unterdrückung von Meinungs- und Pressefreiheit? Das nennen Sie menschlich?«
Liyun blickte zu ihm auf – es war ein Blick, der Unverständnis ausdrückte.
»Ihr Volk besteht aus rund 80 Millionen Menschen«, sagte sie langsam. »Und es erstickt in Kriminalität. Wir sind 1,3 Milliarden Menschen. Wie wollen Sie da Ordnung halten ohne ein eisernes staatliches Regiment? Ohne Einheit unter einer politischen Idee wäre China ein alles vernichtender Vulkan, die Hölle der Menschheit, ja, ihr Untergang. Können Sie sich vorstellen, was es bedeuten würde, wenn wir 200 Millionen Kriminelle hätten? 200 Millionen Kriminelle, die vom Gesetz ›gestreichelt‹ werden, wie es bei Ihnen der Fall ist? Können Sie sich das vorstellen? So viele Verbrecher, wie Mitteleuropa Einwohner hat?«
»Auch unsere Gesetze sind streng, Liyun.«
»Streng?« Sie sah Rathenow an, als habe er etwas völlig Idiotisches gesagt. »Wenn ein Mann bei Ihnen ein kleines Mädchen mißbraucht und es hinterher ermordet, es ertränkt oder erwürgt oder erstickt oder sogar zerstückelt, bekommt er zehn Jahre Gefängnis, weil ein guter Anwalt erzählt, daß der Mann einen seelischen Schaden hat. Ist das Gesetz?«
»Ja … weil er einen seelischen Schaden hat. Bei Ihnen wird er sofort hingerichtet.«
»Sofort! Und öffentlich im Sportstadion.«
»Und das nennen Sie menschlich? Liyun, wie können Sie so etwas gutheißen? Als moderner, aufgeklärter Mensch?«
»Hinter uns steht eine Kultur von über 4.000 Jahren. Und in diesen über 4.000 Jahren hat es immer geheißen: Blut fordert Blut! Denn das ist Gerechtigkeit! Ihr seht es als finsterstes Mittelalter, aber eure Gesetze sind nichts als eine Kapitulation vor einem humanen Menschenwahn! Ordnung entsteht nicht durch Streicheln, sondern durch
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