Der Schwarze Mandarin
einen harten Griff … weil der Mensch beherrscht werden muß und nicht fähig ist, eigenverantwortlich zu leben!«
»Da werden wir uns nie einig werden, Liyun«, sagte Rathenow ernst. »Ihnen fehlt die Vergebungslehre des Christentums.«
»Ihr Christentum! Darauf beruft sich alles! Vor allem die Humanität! Aber wie heißt es in eurer Bibel? Auge um Auge, Zahn um Zahn …«
»Mein Gott, Liyun, was verstehen Sie davon?«
»Ich habe Germanistik studiert und meinen Magister gemacht«, antwortete sie schlicht.
»Das Welt- und Sozialbild ist einem ständigen Wandel unterworfen …«
»Dann berufen Sie sich bitte nicht auf Ihr Christentum. Das sollte unwandelbar sein!«
»Gehen wir!« Rathenow setzte sich wieder in Bewegung. »Wir wollen nicht diskutieren, sondern unbekannte Gebiete besuchen. Ach, ja, noch eine Frage …«
»Bitte.«
»Wir werden in Gegenden kommen, die weitgehend unbekannt sind. Sie sollen mich dahin führen, aber diese Gebiete sind doch auch für Sie Neuland, nicht wahr?«
»Nein. Unser Reisebüro CITS von Kunming hat vor einem Jahr vor allem das Land der Mosuo und den Lugu-See besucht. Wir waren mit vier Geländewagen dort. Zwanzig Personen, an der Spitze unser oberster Chef, Herr Fu Huang. Es war auch für uns ein Erlebnis. Aber wir haben uns alles angesehen und dann überlegt, wie man das Gebiet touristisch erschließen kann. Es ist eine wunderbare, geheimnisvolle, beeindruckende Gegend. Wer einmal dort war, kann sie nie mehr vergessen. Unsere Seelen umschließen ihre Schönheit. In unseren Träumen sehen wir sie wieder.«
»Ihr chinesischen Lyriker! Ich freue mich auf den Lugu-See und das Frauenland der Mosuo.«
Sie traten hinaus unter das Vordach des Hotels. Der Toyota des CITS wartete; die Boys hatten Rathenows Koffer eingeladen; Wen Ying, der Fahrer, stand an der offenen Tür. Er grinste Liyun und Rathenow wie ein alter Vertrauter entgegen. Sein von Sonne und Wind gegerbtes Gesicht verzog sich dabei in tausend Falten.
Mit Erstaunen sah Rathenow, daß, eingeklemmt zwischen seinen Koffern, ein großer Vogelkäfig im Gepäckraum stand. Liyun bemerkte seinen fragenden Blick.
»Wir haben noch einen Gast auf der Fahrt«, sagte sie und lachte hell. »Ying hat seinen Vogel mitgenommen. Drei Wochen Trennung von seinem Vogel – das hält er nicht aus.«
»Ich weiß, daß die Chinesen große Vogelliebhaber sind. Hunderte von Märchen und Gedichten besingen den Vogel … von der Nachtigall bis zum heiligen Phönix. Ich habe nichts dagegen, daß Ying seinen Vogel mitschleppt.«
»Es ist ein Kampfvogel.«
»So ähnlich wie ein Kampfhahn oder Kampfhund?«
»So ähnlich.«
»Ich habe auf den Philippinen einmal einen Hahnenkampf gesehen – einmal und nie wieder. Bestialisch ist das. Mit rasiermesserscharfen Stahlkrallen an den Füßen zerfetzen sie sich!«
»Bei uns ist das anders. Die Vögel haben keine Messer an den Füßen. Sieger ist der, der seinen Gegner ermüdet und auf den Rücken wirft. Es gibt keine Toten oder Verletzten. Yings Vogel hat schon viele Kämpfe gewonnen. Deshalb liebt er ihn so.«
Sie stiegen in den Wagen – Rathenow auf den Hintersitz, Liyun wieder vorne neben Wen Ying. Der Fahrer schloß die Türen, kurbelte sein Fenster hinunter und spuckte erst einmal hinaus auf die Erde. Dann rieb er sich die Hände, als wolle er sagen: Das gibt eine Tour! drehte den Zündschlüssel um, der Motor heulte auf, und dann gab Ying Gas und sauste die Auffahrt hinunter zum weit offenen Tor des Hotelvorplatzes. Mit lautem Hupen ordnete er sich in den starken Morgenverkehr ein, als sei er der einzige auf der Straße. Rathenow schloß unwillkürlich einen Moment die Augen.
»Das kann ja heiter werden!« sagte er dabei laut.
Liyun drehte sich zu ihm um. »Keine Angst …«
»Ich muß gestehen: Ich habe Angst!«
»Ying hat noch nie einen Unfall gehabt.«
»Das sagten Sie schon. Trotzdem – kann er nicht vorsichtiger fahren?«
»Dann kommen wir nicht vorwärts. Nur der Starke gewinnt das Leben, heißt es.«
»Mehr als 4.000 Jahre chinesische Kultur.« Rathenow drückte sich seufzend in die Polster. »Ich lasse mich überraschen. Der CITS arbeitet hoffentlich mit guten Versicherungen zusammen.«
»Wir fahren gleich durch bis nach Dali.«
»Nicht erst Kunming?« Rathenow blickte aus dem Fenster auf das Gewimmel von Menschen und Fahrzeugen, auf die Geschäfte und Garküchen, Straßenhändler und Marktstände.
»Auf dem Programm steht Kunming als letzte Station nach der Rückkehr aus
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