Der Schwarze Mandarin
Maschinenpistolen und begannen, auf das Militär zu feuern. Drei Soldaten schrien auf und wälzten sich auf der Straße, Ying hechtete von seinem Wagen weg und warf sich über seinen Vogelkäfig, um das wertvolle Tier zu schützen, Rathenow riß Liyun hinter einen Baum und drückte sie auf den Boden. Dann warf er sich über sie und hielt sie fest.
Luo reagierte sofort. »Feuer!« brüllte er. »Feuer! Haltet sie auf! Feuer!«
Er selbst kniete neben dem Toyota und schoß mit seiner MP den vorbeirasenden Polizeiwagen nach. Die Soldaten lagen seitlich an der Straße und feuerten; der einzige, der noch stand, war der Soldat auf dem Steinhügel, der die Polizei gemeldet hatte. Auch er schoß nun, nachdem er seinen Schrecken überwunden hatte. Er zielte genau und traf die Hinterräder des letzten russischen Jeeps. Das Fahrzeug schlingerte und schleuderte und prallte dann gegen eine Böschung.
»Ich habe sie!« schrie der Soldat. »Ich habe sie!«
Während der erste Wagen in rasender Fahrt die Burma-Straße hinunterjagte, sprangen vier Polizisten aus dem zerstörten Jeep. Leutnant Luo richtete sich auf und hob wieder die MP. Aber bevor er schießen konnte, stellten sich die ›Polizisten‹ zu einem kleinen Kreis zusammen, reichten sich die Hände, rissen ihre Waffen empor und erschossen sich gegenseitig. Sie fielen übereinander, vier Leiber, von Kugeln durchsiebt.
Sie kürzten den Tod damit ab … kein Verhör, keine Folter, keine öffentliche Hinrichtung im Fußballstadion von Kunming. Der Tod war ihnen sicher – warum vorher noch die Qualen?
Luo ging auf den kleinen Menschenhaufen zu, die MP schußbereit im Anschlag. Aber die Polizisten rührten sich nicht mehr. Eine große Blutlache breitete sich auf der Straße aus. Während die anderen Soldaten sich um die drei Verwundeten kümmerten und sie von der Straße zogen, spreizte Luo vor den Toten die Beine und feuerte ein ganzes Magazin auf die Leichen ab. Es war ein Ausdruck ohnmächtiger Wut, völlig sinnlos, aber es löste seine innere Spannung.
Als die letzten Schüsse gefallen waren, rollte sich Rathenow von Liyuns Körper zur Seite und blieb neben ihr liegen. Sie hatte die Augen geschlossen, die Lippen fest aufeinander gepreßt, als wolle sie ein Schreien unterdrücken. Sie lag auf dem Rücken, die Arme von sich gespreizt, die Beine aneinander gepreßt, ihre Brust hob und senkte sich stoßweise. Rathenow sah sie an, und ein verrückter Gedanke überwältigte ihn: Sie liegt da, als hätte man sie vergewaltigt. Ja, ich habe auf ihr gelegen, aber ich hatte keine Zeit zu denken. Ich habe nur eins gedacht: Ihr darf nichts passieren. Es war eine Reflexhandlung …
Liyun seufzte leise auf, drehte den Kopf zu ihm und öffnete die Augen. Ihr Blick suchte ihn, und als sie sah, daß er neben ihr im Staub und Unkraut lag und jetzt in den wolkenlosen, blauen Himmel starrte, drehte sie sich ganz zu ihm um und stützte sich auf die Unterarme.
»Sie haben sich über mich geworfen …«, sagte sie mit einer fast kindlichen Stimme.
»Um Sie zu schützen.«
»Man … man hätte Sie erschießen können.«
»Das wäre Schicksal gewesen.«
»Nein! Sie haben sich als Kugelfang auf mich geworfen. Warum?«
»Das war doch selbstverständlich.«
»Selbstverständlich, daß Sie für mich sterben könnten?«
»Daran habe ich in diesen Sekunden nicht gedacht. Ich habe nur gedacht: Du mußt sie retten! Genaugenommen: Ich habe gar nichts gedacht. Ich habe aus einem Reflex heraus gehandelt. Es war wie damals im Krieg: Deckung! Ich war bei Kriegsende zwölf Jahre alt. Meine Eltern hatten mich zu einem Onkel nach Dresden geschickt, weil sie glaubten, dort sei ich sicher vor Luftangriffen. Und in Dresden erlebte ich den fürchterlichen Bombenangriff der Engländer, bei dem Tausende von Menschen zerrissen wurden, in den Kellern erstickten oder als lebende Fackeln durch die Straßen rannten. Berge von verkohlten Leichen lagen auf den Plätzen, zusammengeschrumpft zu schwarzen Klumpen. Auch ich wurde im Keller im Haus meines Onkels verschüttet. Alle meine Verwandten starben, nur ich überlebte, weil ich, eben aus einem Reflex heraus, an einen Betonpfeiler kroch, der das Kellergewölbe hielt. Seltsam … Aber jetzt ist ja alles vorbei. Sie leben.«
Rathenow richtete sich auf, saß neben Liyun auf der Erde, zog die Beine an und blickte über die Felder, auf denen in langen, geraden Reihen der Kohl grünte. Ein Bauer mit einem breiten Hut aus geflochtenem Reisstroh stampfte über ein
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