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Der Schwarze Mandarin

Der Schwarze Mandarin

Titel: Der Schwarze Mandarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Radfahrer.
    »Sind Sie müde?« fragte Liyun, weil Rathenow so still geworden war.
    »Ein bißchen. Sie nicht?«
    »Nein.«
    »Wir waren jetzt über zwölf Stunden unterwegs. Und außerdem bin ich schon 58 Jahre alt. Wie alt oder besser jung sind Sie, Liyun?«
    »Fünfundzwanzig …«
    »Unmöglich. Sie lügen. Sie sind höchstens neunzehn!«
    »Dann hätte ich nicht acht Semester Germanistik studieren können. Rechnen Sie nach. Übrigens: Ich lüge nie.«
    »Nie?«
    »Nie!«
    »Was haben Sie für einen Eindruck von mir?«
    »Sie sind ein berühmter Mann und anders, als ich befürchtet hatte.«
    »Danke. Das freut mich. Und weiter …?«
    »Weiter nichts.« Liyun sah ihn groß an. So abweisend ihre Worte klangen, ihre schönen Augen sprachen eine andere Sprache. »Ich kenne Sie ja erst zwei Tage. Können Sie einen Menschen nach zwei Tagen schon beurteilen?«
    »Ja. Das Erkennen kann wie ein Blitz sein. Wie ein Blitzeinschlag, der alles Gewesene vernichtet.«
    Liyun blickte auf ihre Hände im Schoß und hob die Schultern.
    »Ich habe Angst vor Blitz und Donner«, sagte sie so leise, daß Rathenow sie kaum verstand. »Ich bin ein Mensch, der die Sonne liebt. Es müßte immer Frühling um mich sein, immer der Duft frischer Blüten. Ein Blitz ist grausam, ist Zerstörung.«
    »Sie haben recht, Liyun.« Rathenow legte seine Hand auf ihren Arm, sie zog den Arm sofort zurück. »Verzeihen Sie, ich bin ein dummer Mensch …«
    *
    »Guten Morgen! Haben Sie gut geschlafen?«
    Hundertmal der gleiche Spruch, eingeübt wie ein Tanzschritt, und auch heute begrüßte Liyun mit dieser Floskel Rathenow und ärgerte sich sofort, daß ihr nichts anderes eingefallen war als diese Platitüde.
    Sie trafen sich in der Halle des ›Dali-Hotels‹, in dem Hua die Zimmer bestellt hatte. Es war ein nüchterner Zweckbau mit einem großen, durch eine Mauer von der Straße abgetrennten Vorhof und einer Toreinfahrt, in der Tag und Nacht ein Wachposten saß. Im Erdgeschoß dieses Wächterhauses hatte man einen Souvenirladen eingerichtet, in dem es neben Puppen in Bai-Tracht, gehämmertem Silberschmuck und bunten, aber schlecht gedruckten Ansichtskarten auch das süße Gebäck, Bonbons und sogar Schuhe und Strümpfe gab, außerdem aus Reisstroh geflochtene Umhängetaschen, Jadeschnitzereien und die unvermeidlichen Tusch-Rollbilder unbekannter Landschafts- und Schriftenmaler, die wie in einer Fabrik am Fließband gezeichnet werden. Es gab kaum einen Touristen aus dem Westen, der nicht mindestens eins dieser ›Kunstwerke‹ als typisch chinesisch mit nach Hause brachte.
    Für Dali war das ›Dali-Hotel‹ eine Art Luxusbau. Der große Speisesaal und vor allem die von der Eingangshalle abgehende Bar waren etwas Besonderes; die Preise waren so hoch, daß ein normaler Chinese es sich kaum leisten konnte, in dieses Hotel zu gehen. Wer kann schon 100 Yuan für ein Abendessen ausgeben, wenn man nur 250 Yuan im Monat verdient? Bemerkenswert für ein Großhotel aber war vor allem: Hier gab es keine ›Hühnchen‹, die abends in der Bar herumsaßen und auf sexhungrige Touristen warteten. Die allgegenwärtige Polizei paßte höllisch auf, daß diese Großstadtsitten in Dali gar nicht erst einrissen.
    »Ich habe gut geschlafen!« antwortete Rathenow. Er bewunderte im stillen Liyuns zarte Schönheit. Sie trug eine bunt bestickte, weite Baumwollbluse, enge, hellblaue Jeans, die ihre schlanke, zarte Figur diskret betonten. Die Füße steckten in weiß-blau gestreiften Leinenschuhen mit einer dicken Profilsohle. Sie ist ein Püppchen, dachte Rathenow. Wirklich ein süßes, lockendes Püppchen. Ihr Anblick läßt das Herz klopfen und weckt Sehnsucht. Liyun, wenn ich zwanzig Jahre jünger wäre …, aber ich bin ein Mann von 58 Jahren, an der Grenze zum Alter. Mir bleiben nur das Anschauen und meine geheimen Gedanken.
    »Ich habe geträumt«, fuhr er fort, »das ist äußerst selten. Ich träume sonst nie.«
    »War es ein schöner Traum?«
    »Ich habe von Ihnen geträumt …«
    Liyun antwortete nicht darauf, nur ihr Gesichtsausdruck wurde strenger.
    »Gehen wir in den Frühstücksraum«, sagte sie, »wir haben heute ein volles Programm. In einer halben Stunde kommt Hua uns abholen.«
    »Ich habe geträumt, daß Sie einen Freund haben. Wir saßen irgendwo auf einer Holzbank, und Ihr Freund überraschte uns – welch ein Blödsinn. Er war eifersüchtig wie Othello und probierte an mir seine Kung-Fu-Künste aus. Ich flog durch die Luft – und wachte auf. Der Traum war

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