Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Schwarze Mandarin

Der Schwarze Mandarin

Titel: Der Schwarze Mandarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
Vom Netzwerk:
den Decken links neben der Tür aufgestellt hatte, Ruhestatt und Wachposten zugleich. Neben dem uralten, aus Flußsteinen gemauerten offenen Herd mit Abzug durchs Dach und den Ketten, an die man früher die Kessel hängte, stand ein moderner elektrischer Herd – der einzige Luxus, den Rathenow im ganzen Haus sah. Alles andere schien aus vergangenen Jahrhunderten zu stammen: der rechteckige Tisch, die niedrigen Stühle, eine Bank an der Wand, eine Art Küchenschrank, eine schmale Truhe, kunstvoll geschnitzt, und auf der Truhe, auf einer roten, bestickten Decke, ein Foto von Mao in einem runden Bambusrahmen. Vor dem Bild stand eine Porzellanvase mit einer frischen Blume. Das Auffälligste aber war: An der Wand zwischen den beiden Türen zu den Kammern, also im Blickfeld, wenn man das Haus betrat, und damit an einem Ehrenplatz, stand ein reich verzierter Sarg aus dunkelrotem Eisenholz. Hier, bei Tante Fuli, war die Tradition noch lebendig. Vergiß nicht, die Tage zu zählen, sie werden immer weniger.
    Tante Fuli setzte sich an den Tisch, Liyun neben sie, während Rathenow ihnen gegenüber auf der Holzbank Platz nahm. Die alte Frau starrte Rathenow an, stand dann wieder auf, ging in die Küchenecke, holte die in keinem Haushalt fehlende 2-Liter-Thermoskanne und zwei halbhohe dicke Gläser, füllte sie mit Tee und schob sie ihren Gästen zu. Grüner Landtee. Die Höflichkeit gebietet es, einen Gast mit Tee zu begrüßen, sonst ist er nicht willkommen.
    Gleichzeitig brachte sie ein kleines Jutesäckchen mit und legte es auf den Tisch. Liyun und Rathenow tranken den heißen Tee mit kleinen Schlucken.
    Tante Fuli schnürte das Säckchen auf und schüttete einen Haufen kleiner, geschliffener Steine in verschiedenen Farben auf die Tischplatte. Liyun blickte hinüber zu Rathenow.
    »Darin liest sie die Zukunft. Aus der Anordnung der Farben schließt sie auf die Ereignisse, die in fernen Zeiten stattfinden.«
    »Bei uns gibt es Wahrsagerinnen, die lesen die Zukunft aus dem Kaffeesatz. Und viele glauben das.«
    »Ich auch.«
    »Liyun, Sie sind doch ein modernes Mädchen!«
    »Was hat das damit zu tun? Seit Jahrtausenden wird die Zukunft schon aus den Steinen gelesen. Tante Fuli ist eine der wenigen, die diese Kunst noch beherrschen. Früher wurde sie von den Schamanen ausgeübt. Die Schamanen waren für unsere Ahnen der Mittelpunkt ihrer Kultur. Einer von ihnen sagte vor langer Zeit einmal den Untergang des Bai-Königreiches voraus, aber niemand schenkte ihm Glauben. Wegen dieser Prophezeiung wurde er dann hingerichtet – und dann kam Kublai-Khan und zerstörte das Reich. Warum lächeln Sie, Herr Rathenow? Sie müssen noch viel lernen, um uns Chinesen wirklich zu verstehen.«
    »Ich glaube, wir werden euch nie ganz verstehen. Ihr lebt in einer eigenen Welt. Jenseits unseres Denkens. Das fasziniert uns ja so.« Rathenow straffte sich. Tante Fuli hatte die Steine mit beiden Händen aufgenommen und schüttelte sie jetzt. »Achtung! Es geht los!« sagte er respektlos. »Gleich werden wir wissen, was Wang Liyun noch alles erwartet.«
    Liyun sah ihn lange nachdenklich an.
    Die alte Frau öffnete die Hände, die bunten Steine fielen auf den Tisch und verteilten sich. Tante Fuli schloß die Augen, ihr Gesicht wurde trotz der vielen Falten plötzlich schön. Es schien wie von innen beleuchtet. Mit leiser singender Stimme sagte sie:
    »Ehrt ihn, ehrt ihn,
den offenbaren Gott!
Sein Wille ist schwer!
Sagt nicht: Er ist so hoch und fern.
Er steigt empor und schwebt herab,
und täglich schaut er unser Tun.

Ich bin noch jung,
ein unerfahrener Tor.
Doch Tag für Tag
streb' ich empor nach weisheitsvollem Licht.
Helft tragen mir die Last!
Zeigt mir des Lebens Offenbarung!«
    »Das ist aus dem Schi-Djing der Dschou-Dynastie«, flüsterte Liyun Rathenow zu. »Zwölfhundert Jahre vor eurer Zeitrechnung.«
    Fasziniert starrte Rathenow auf Tante Fulis Hände. Sie schwebten mit gespreizten Fingern über den bunten Steinen, feine zartgliedrige Hände, die nichts Greisenhaftes an sich hatten. Und mit der gleichen singenden Stimme, als käme sie aus weiten Fernen wie ein Gesang der Winde, sagte sie: »Du bist gespalten wie ein Baum, den der Blitz zerteilt hat. Aber die Wurzel hat er nicht erreicht, hat er nicht vernichtet. Aus ihr wird neues Grün sprießen und ein schöner, großer starker Baum wachsen. Aber nicht auf dieser Erde, nicht im Boden der Heimat. Fern von hier wird er seine Zweige in den Himmel strecken und hoffen, daß Regen und Sonne, Wind

Weitere Kostenlose Bücher