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Der Schwarze Mandarin

Der Schwarze Mandarin

Titel: Der Schwarze Mandarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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einzige Nahrung.
    Ungefähr fünfzehn Kilometer hinter Dali klopfte Liyun dem Fahrer auf den Arm. Ying sah sie erstaunt an, fuhr an die Seite und hielt an. Neben ihnen lag ein altes Bai-Dorf an einem kleinen Hang, ein sauberes Dorf mit festen Häusern, Ziegeldächern und Treppengassen. Zwei uralte Lastwagen standen an einer Stelle, an der die Straße etwas breiter war.
    »Das ist das Dorf Er Yuan«, sagte Liyun. »Übersetzt heißt das: ›Quelle des Sees‹.«
    »Was wäre China ohne Poesie!« Rathenow blickte aus dem Fenster. »Gibt es hier etwas Besonderes?«
    »Hier ist mein Vater geboren.«
    »Der Herr Professor …«
    »Er war Vollwaise und bettelarm. Er wuchs bei einem Onkel auf, der sich durch die Familientradition dazu verpflichtet fühlte. Die Partei hat dann später für seine Ausbildung gesorgt. Während des Studiums war er Funktionär an der Universität von Kunming. Interessiert Sie das?«
    »Aber sehr.«
    »Sollen wir aussteigen und Er Yuan besichtigen? Es wohnt noch eine Tante von mir im Dorf. Die könnten wir besuchen.«
    »Ich bin dabei!«
    Sie stiegen aus. Ying blieb beim Wagen und rauchte eine Zigarette. Über einen Weg aus dicken Steinplatten und vielen Treppen aus rundgeschliffenen Seesteinen stiegen sie im Zickzack den Hügel hinauf, bis sie vor einem typischen Bai-Haus standen. Eine Mauer zum Weg, ein Tor, dahinter ein Innenhof und dann das Haus. Im Hof blühten Azaleen und Lilien, ein Kamelienbaum stand neben einem uralten, ummauerten Brunnenschacht, der schon sehr lange nicht mehr benutzt wurde, denn inzwischen hatte man eine Wasserleitung gebaut.
    Liyun trat in den Innenhof und blickte sich um. Sie war seit zwei Jahren nicht mehr hier gewesen – nichts hatte sich verändert. Hier war die Zeit stehengeblieben. Die Steinmauern bröckelten; auf dem Dach wuchs Unkraut, nur die Stromleitung bewies, daß die Neuzeit auch in Er Yuan eingezogen war.
    »Hier hat mein Vater als Kind gespielt«, sagte Liyun fast andächtig. »Das war vor 55 Jahren – es ist alles noch so, wie Vater es beschrieben hat.«
    Aus der Tür des Hauses kam eine alte, gebückte Frau in schwarzem Kleid und schwarzer Leinenhose darunter. Das ergraute Haar war im Nacken zu einem Knoten gebunden. Sie trug eine randlose Brille mit dicken Gläsern. Aufmerksam musterte sie die beiden Besucher.
    »Das ist Tante Song Fuli«, sagte Liyun und winkte mit beiden Armen. »Hallo, Tante Fuli! Tante Fuli – erkennst du mich nicht?«
    »Wang Liyun.« Die alte Frau blieb in der Tür stehen. »Sei gegrüßt, mein Töchterchen. Welch eine Freude, dich zu sehen. Komm näher, komm näher.« Sie umfaßte Liyuns Kopf, als sie vor ihr stand, und küßte sie auf die Stirn. »Du siehst aus wie eine Pfirsichblüte. So sieht ein glücklicher Mensch aus. Bist du glücklich?«
    »Ja, Tante Fuli.«
    »Und wen bringst du als Gast mit?« Tante Fuli nickte zu Rathenow hinüber, der ein paar Schritte abseits stehengeblieben war.
    »Einen berühmten Mann.«
    »Liyun!« rief Rathenow strafend. Er ahnte, was sie sagte.
    »Den ich durch Yunnan führe bis zu den Mosuos. Ein Gelehrter. Ich … ich möchte dich um etwas bitten …« Und zu Rathenow gewandt, sagte sie: »Tante Fuli ist das, was ihr eine Wahrsagerin nennt. Sie kann die Zukunft voraussagen. Viele Bauern kommen zu ihr, um zu erfahren, wie die Ernte wird. Sogar aus Dali kommen Leute. Hier in der Gegend heißt es, sie habe eine direkte Verbindung zu den Göttern. Wenn sie weissagt, sprechen die Götter durch sie. Möchten Sie, daß Tante Fuli Ihnen die Zukunft verrät?«
    »Nein. Erstens glaube ich nicht daran, und zweitens will ich gar nicht wissen, was kommen wird. Ich lasse mich lieber überraschen.«
    »Ich werde sie bitten, mir die Zukunft vorauszusagen. Darf ich?«
    »Sie fragen mich? Es ist Ihre Zukunft. Ich bin gespannt, was Tante Fuli sieht.«
    »Um was willst du mich bitten?« fragte die alte Frau.
    »Erklär mir die Zukunft, Tante Fuli.«
    »Kommt ins Haus.«
    Sie betraten das Haus, das von außen größer aussah, als es im Inneren war. Hier gab es nur einen großen, zentralen Raum, der Wohnzimmer und Küche in einem war. Zwei Türen im Hintergrund führten zu zwei Schlafkammern. Ein Badezimmer oder eine Toilette gab es nicht. Man wusch sich in einer Emailleschüssel, und menschliche Bedürfnisse wurden in einen Porzellannachttopf erledigt, der mit bunten Drachen und Vögeln bemalt war. Rathenow fiel besonders auf, daß Tante Fuli nicht in einer der Kammern schlief, sondern ihr flaches Bett mit

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