Der Schwarze Mandarin
bestaunt, schon wegen unserer städtischen Kleidung. Und dabei sind wir doch auch Chinesen. Ich bin gespannt, wie sie sich Ihnen gegenüber verhalten.«
»Verdammt, ich freue mich! Menschenfresser sind sie ja nicht.«
»Bei den Mosuos regieren die Frauen, das wissen Sie doch.«
»Frauen sind oft grausamer als Männer. Dafür gibt es Beispiele …«
Jetzt meint er mich – Liyun drehte sich um und blickte wieder nach vorn. Wenn er wüßte, was zwischen Zhi und mir in der vergangenen Nacht gewesen ist! Vielleicht sage ich es ihm später – nein, ich werde es ihm nie sagen. Nie!
Wie vorausgesagt, erreichten sie nach viereinhalb Stunden Lijiang, die Stadt der Naxis, eine autonome Enklave innerhalb Yunnans mit einer Selbstverwaltung, die aber von der Provinzregierung in Kunming beaufsichtigt wird. Majestätisch ragen die immer mit Schnee bedeckten Yulong-Berge in den blauen Himmel. Nach Süden setzen sie sich in zwei niedrigen Bergketten fort, die eine weite Hochebene einrahmen. Das Land ist durchzogen von vielen schmalen Bächen, in denen das Schmelzwasser aus dem Gebirge fließt und die Felder bewässert. So weit das Auge reicht, reiht sich Feld an Feld, unterbrochen von großen Weideflächen, auf denen Schafe, Ziegen und Yaks, die tibetanischen Bergrinder, weiden. Die Gärten an den Häusern blühen mit verschwenderischer Farbenpracht. Lijiang, die Blumenstadt, wird durchzogen von Kanälen, und wer hierherkommt, darf nicht versäumen, den 10.000blütigen Kamelienbaum aus der Ming-Dynastie zu bewundern. Er blüht jedes Jahr – seit über 620 Jahren.
Ying hielt auf einem Parkplatz zum Eingang der Altstadt an. Hier hineinzufahren war unmöglich. Die Gassen waren zu eng, die Kanäle ließen kein Ausweichen zu, außerdem waren die Wege lehmig und voller Steine. Es gab nur eine ausgebaute Straße, die zum Stadtamt, dem Rathaus, führte, aber die durften nur die Besitzer der Marktstände, die der Verwaltung gegenüber aufgebaut waren, nutzen. Zwei Jeeps der Polizei standen ständig vor dem einzigen mehrstöckigen Steinhaus der Altstadt. Hier konzentrierte sich auch das Gewimmel der Bewohner – der Markt war Einkaufs- und Informations-Zentrale des alten Lijiang. Das neue Lijiang zeigte sich als eine Anhäufung von grauen oder gelben Industriehäusern, seelenlos, schmucklos, eine häßliche Arbeitersiedlung.
»Fahren wir zuerst ins Hotel?« fragte Liyun.
»Sie sind mein Führer. Ich beuge mich Ihrer Entscheidung.«
»Dann gehen wir einmal quer durch die Altstadt, solange es noch hell ist. Hier wird es schneller dunkel als in Dali oder Kunming. Das Hotel heißt ›Lijiang-Gasthaus‹ und ist das beste in der Stadt. Dort wohnen auch die Funktionäre und Gäste der Regierung, wenn sie Lijiang besuchen. Ein sauberes Hotel, aber ein Bau aus der Mao-Zeit, ohne Komfort.«
»Hören Sie auf mit Komfort, Liyun! Können wir nicht irgendwo privat schlafen? Dort, in der Altstadt?«
»Das ist nicht vorgesehen. Der Plan kommt aus Peking und Kunming – ich muß ihn einhalten. Es ist ja alles bezahlt.«
»Und wenn … Ich würde die paar Yuan zahlen, wenn ich einmal bei einer chinesischen Familie schlafen könnte.«
»Das werden Sie bei den Mosuos sowieso. Dort gibt es keine Hotels. Die werden erst gebaut, wenn der neue Flugplatz in Lijiang fertig ist und Fremde in dieses Land kommen.«
»Furchtbar! Dann stirbt auch die uralte Kultur der Mosuos. Das ist der Wahnsinn des Fortschritts: Wo er Fuß faßt, zerstört er das Alte. Übrig bleiben ein paar Denkmäler – Tempel, Brücken, Teiche, Tore. Und um die Tempel herum rasen die Autos wie auf der Autobahn.«
»In China nicht. China wird nicht sterben. Unser Stolz auf die Vergangenheit ist stärker als bei anderen Völkern. Selbst Mao mit seiner Kulturrevolution hat es nicht geschafft, die Tradition zu zerstören.«
»Das sagen Sie mal amerikanischen oder deutschen Industriebossen, die in China investieren wollen – und werden. Ein Beispiel ist doch Ihr Kunming. Die Viertel der Altstadt werden ›saniert‹, niedergerissen, und an ihrer Stelle wachsen Bürohäuser und Superhotels in den Himmel, werden breite Straßen angelegt, Supermärkte und Wohnkolonien. In ein paar Jahren gibt es das alte Kunming nicht mehr. Es wird Chicago oder Boston, Köln oder Frankfurt gleichen. Man nennt das Wirtschaftswunder. Wo Geld regiert, gibt es keine Ewigkeit. Da sind die Bankkonten der einzige Lebenssinn. Mein Gott, Liyun, bin ich ein glücklicher Mann, daß ich noch das ursprüngliche China
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