Der Schwarze Mandarin
und Stille ihn nie verlassen. Glück und Gefahren wird er sehen, aber er wird aufrecht stehen und Schutz geben allen, die unter seinen Blättern liegen. Und er wird alt werden und alle anderen Bäume überragen, und alle werden sagen: ›Wie schön ist er. Wie gnädig sind die Götter, die so viel Schönheit schenken.‹ Und aus dem Stamm wird ein neues Bäumchen wachsen, damit es ein ewiges Leben wird bis zum Untergang der Welt. Die ferne Fremde wird zur neuen Heimat werden, aber er wird bleiben, was er war und ist: ein Baum aus dem Schoß der Himmelserde …«
Tante Fuli ließ die Hände sinken, öffnete die Augen und schob die Steine zurück in das Jutesäckchen. Rathenow atmete auf; obwohl er nichts verstanden hatte, hatte die eintönig singende Stimme ihn verzaubert.
»Was hat sie gesagt?« fragte er Liyun, die stumm und mit halbgeschlossenen Augen dasaß. Nur ihre Lider zitterten. Sie schrak zusammen, als Tante Fuli sie ansprach.
»Hast du alles verstanden? Hast du es begriffen?«
»Ja, Tante Fuli. Ich danke dir.« Ihre Stimme klang klein und kindlich. »Aber … verzeih einem ungebildeten Mädchen … ich kann es nicht glauben. Ich werde China nie, nie verlassen. Es wächst kein neuer Baum in der Fremde.«
»Die Steine lügen nicht. Der Wartende ist klüger als der Schnelle.« Sie stand von ihrem Holzhocker auf, ging zum Herd und holte die Thermoskanne mit Tee. Rathenow wischte sich über die Augen. So etwas Verrücktes, dachte er. Fast hätte sie mich mit ihrem Singsang hypnotisiert. Die Schamanen waren verdammt clevere Burschen! Mit ihrer Stimme lullten sie die Zuhörer ein. Bei vielen alten Naturvölkern habe ich das erlebt … bei den Papuas und bei den Aborigines, bei den Buschmännern und bei den Hunzas, bei den Yanomamis und sogar in Kasachstan. Trotzdem ist es immer wieder tief beeindruckend – und darin ist ihr Erfolg begründet!
»Was hat sie gesagt?« fragte er Liyun wieder.
»Sie sagt …«, Liyun zögerte eine Sekunde, »… sie sagt, ich werde bald heiraten.«
»Bravo! Und das war alles?«
»Ja.«
»So wenig mit so vielen Worten?«
»Im Chinesischen wird vieles umschrieben.«
»Ich weiß. Blumige Bilder.«
»So ist es. Noch einen Tee?«
»Bitte.«
»Er wird Ihnen guttun.«
Er trank und starrte dabei auf den Tisch. Sie wird bald heiraten. Glücklicher Shen Zhi! Ich wünsche dir, daß du in der Hochzeitsnacht einen Herzinfarkt bekommst. In ihren Armen. Rathenow! Was hast du dir geschworen? Nie wieder solche Gedanken. Sollen sie doch glücklich werden in Dali. Was geht dich das an?
Tante Fuli war durch den Blick in die Zukunft sichtlich erschöpft. Sie brachte ihre Besucher bis an das Tor, umarmte Liyun, gab ihr einen Kuß auf die Stirn und nickte Rathenow zu. Er verbeugte sich leicht und ging hinüber zu Ying, der am Auto gewartet hatte. Liyun folgte ihm und winkte noch einmal der Tante zu.
Er ist wütend, stellte sie zufrieden fest. Er geht voraus und läßt mich einfach stehen. Das hätte er sonst nie getan. Das ist seine kleine Rache, aber eher soll mein Mund verfaulen, als daß ich ihm sage, was Tante Fuli in der Zukunft gesehen hat. Außerdem stimmt es nicht – kein Wort wird sich erfüllen, nicht ein einziges Wort. Es gibt keinen Baum, den ein Blitz spaltet …
Sie stiegen in den Wagen und fuhren weiter. Lange Zeit blieben sie stumm, ein quälendes, böses Schweigen, das auch Liyun nicht unterbrechen wollte.
Fang du an, dachte sie. Sag ein Wort! Ich kann es nicht aushalten, dieses Schweigen. Sie blickte aus dem Fenster auf die Straße, auf den Erhai-See, auf die vorbeiziehenden Dörfer und auf drei Wasserbüffel, die ein Bauer mühsam über die Straße trieb. Das wilde Hupen Yings überhörte er mit bewundernswerter Ruhe. Er blickte nicht einmal auf zu dem Wagen. Genosse, ein Büffel ist wichtiger als du – er ernährt mich. Du lebst von dem Geld, das andere dir geben.
Endlich, nach einer halben Stunde, brach Rathenow das gespannte Schweigen.
»Wie lange bleiben wir in Lijiang?«
»Nur einen halben Tag. Zu den Mosuos gibt es nur eine schmale, unbefestigte Straße. Sie führt durch die Felsen, gefährlich nah an tiefen Abgründen vorbei. Da kann auch Ying nicht schnell fahren. Wir brauchen mindestens einen Tag bis zum Lugu-See. Aber wer kommt schon zu den Mosuos? Eine ›Langnase‹ war dort noch nie.«
»Dann werde ich eine Sensation sein?«
»So ähnlich. Ein unbekanntes Menschenwesen. Als wir vom Reisebüro zum erstenmal den Lugu-See besuchten, wurden sogar wir
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