Der Schwarze Mandarin
dir, daß ich deine Stimme hören durfte. Du hast mir viel Weises gesagt, aber alle Weisheit hilft mir nicht weiter. Ich muß warten lernen.«
»›Wer etwas Heißes anfaßt, sollte seine Hand anfeuchten‹, sagt Schiking.«
»Ich habe immer feuchte Hände, wenn ich ihn berühre. Papa, es ist so furchtbar. Ich glaube, er merkt es gar nicht. Mein Gott, er soll es auch nicht merken.«
Und Wang, der Professor für chinesische Literatur, antwortete zum letztenmal: »Li Yü sagt: ›Will man einen Menschen prüfen, muß man vor allem prüfen, ob er Herz hat.‹ Da kann ich dir nicht helfen. Ich lege meine Hand über dich und segne dich, mein Kind. Entscheide dich für das Richtige – du wirst es finden.«
»Ja, Papa.« Wang hörte, wie sie zu weinen begann. »Umarme Mama und gib ihr von mir einen Kuß. Ich liebe euch alle so sehr, ich … ich kann doch nicht ohne euch sein.«
Es knackte in der Leitung. Wang legte auf. Sie kann nicht mehr weitersprechen, dachte er. Mein armes Töchterchen.
Der Hausmeister hatte unterdessen eine Tasse Tee getrunken und kratzte sich jetzt den Kopf. »Wie geht es Liyun?« fragte er.
»Gut.« Professor Wang ging zur Tür. »Sie fährt morgen zu den Mosuos.«
»Ein tapferes Mädchen. Du kannst stolz auf sie sein.«
»Das bin ich.«
»Du hast so viele Sprüche gesagt …«
»Sie wollte ein paar alte chinesische Weisheiten hören, um sie dem deutschen Gast zu übersetzen.« Wang wich aus und zog die Tür auf. »Ohne Weisheit zu leben ist wie Brot ohne Mehl zu backen.«
Oben, in seiner Wohnung im zweiten Stock, sagte Wang dann zu seiner Frau: »Lizhen, unsere Tochter ist voller Sorgen.«
Lizhen blickte vom Kochherd auf – sie dünstete gerade den Kohl für das Abendessen. Sie waren spät dran; am Abend hatte sie noch einen Vortrag in der Universität halten müssen: ›Die Aufgabe der Frauen in einer neuen kommunistischen Gesellschaft‹. Für solche Vorträge holte die Partei gern die Professorin Lizhen Cai. Lizhen hatte sogar eine hohe Auszeichnung des Ministeriums erhalten, eine kunstvolle Urkunde in einem roten, mit goldenen Buchstaben verzierten Einband, der für alle sichtbar auf einem Tischchen neben dem Fernseher lag: Die Anerkennung für ein Lied, das sie geschrieben hatte und das jetzt als Morgengruß in den Schulen gesungen wurde. Außerdem war sie in das Lexikon ›Die berühmtesten Frauen Chinas‹ aufgenommen worden – eine ganz große Ehre.
»Was hat Yan schon wieder angestellt?« fragte sie.
»Nicht unsere Älteste. Liyun, unsere Kleine, hat Kummer.«
»Liyun?« Lizhen rückte den Topf von der Kochplatte. »Ist sie krank?«
»Ja.«
»Oh, was fehlt ihr? Wo ist sie jetzt?«
»Sie ist verliebt, und sie ist jetzt in Lijiang.«
»Xianlin – unsere Kleine hat sich schon oft verliebt. Ihre Schönheit lockt die Männer an wie eine Blüte den Schmetterling. Das geht vorbei … wie immer … Sie liebt doch Shen Zhi.«
»Sie liebt einen älteren Mann. Einen Witwer.«
»Wie alt?«
»Das hat sie nicht gesagt. Aber sie sprach von einem großen Problem – und das muß das Alter sein.«
»Und was hast du ihr geraten?«
»Sie soll Einkehr halten und sich selbst erkennen.«
»Dumm, dumm, dumm, Xianlin! Wir dürfen sie jetzt nicht allein lassen.«
»Was sollen wir tun, Lizhen?«
»Sie soll den Mann zu uns bringen. Ich will ihn sehen und mit ihm sprechen.«
Und beide ahnten nicht, daß das ganz und gar unmöglich war.
*
Die Fahrt zum Lugu-See war wirklich das Abenteuerlichste, das Rathenow auf seinen vielen Reisen erlebt hatte. Die Bergstraße, ehemals nur ein Trampelpfad, war in die kahlen Felsen gesprengt. Sie führte an Abgründen vorbei, in die nur ein völlig Schwindelfreier hinabblicken konnte. Rathenow fragte sich, was wohl passieren würde, wenn ihnen ein anderes Auto entgegenkam. Ein Ausweichen gab es nicht … nur ein Abstürzen in die Tiefe oder ein Zerquetschen an der Felswand. Ying wußte das auch … er nahm ab und zu einen kräftigen Schluck aus einer Flasche Mao Tai, und vor jeder unübersichtlichen Kurve hupte er so lange, bis er die Höllenstraße wieder übersehen konnte. Liyun saß gelassen neben ihm, von Angst war ihr nichts anzumerken. Sie aß einen Riegel Schokolade und bot Rathenow davon an.
»Danke!« sagte er mit gepreßter Stimme. »Mir ist jetzt nicht nach essen zumute.«
Die Straße mündete in eine Hochebene, ähnlich wie die von Lijiang, mit kleinen Dörfern und sorgsam bestellten Feldern, auf denen nur Frauen arbeiteten, die Äcker
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