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Der Schwarze Mandarin

Der Schwarze Mandarin

Titel: Der Schwarze Mandarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Mosuo-Land auszuarbeiten. Infrastruktur verstand hier keiner, aber es war ein ehrfurchtgebietendes Wort, das ihn in den Augen der Mosuos zu einem großen Mann machte.
    Jetzt stand er neben dem Bürgermeister des Dorfes vor dessen Haus und sah mit Zufriedenheit, daß der Wagen aus Kunming auf sie zufuhr. Nachricht an Herrn Shen Jiafu konnte er nicht geben … hier gab es noch kein Telefon und keinen elektrischen Strom. Hier lebte man noch beim Licht von in Tonschalen gegossenem Talg oder Bienenwachs. Der aus Felssteinen gemauerte Herd bildete das Herz des Hauses, und an dem kleinen Altar, der nirgends fehlte, wurden die Ahnen verehrt. Hier lebten die Ahnen der Mütter noch, und wenn die Mosuos an den roh gezimmerten Tischen aus wertvollem Pinienholz saßen, verzehrten sie ihre Mahlzeiten nicht allein – die Ahnen aßen und tranken mit, und man mußten ihnen danken, daß es auch an diesem Tag genug zu essen und zu trinken gab.
    »Fremde!« sagte der Bürgermeister zu dem pockennarbigen Chinesen. Daß er als Mann zum Bürgermeister gewählt worden war, hatte mit Macht nichts zu tun. Die regierenden Frauen hatten keine Zeit, sich um die Verwaltung zu kümmern, mit den Behörden in Zhongdian zu verhandeln oder im Dorf zu Gericht zu sitzen, wenn streitbare Nachbarn sich untereinander nicht einigen konnten. In der Familie aber hatte auch der Bürgermeister nicht viel Bedeutung.
    »Wo kommen sie her?«
    »Die Autonummer weist auf Kunming hin«, antwortete der Chinese.
    »Was wollen sie hier?«
    »Ah, sieh an!« Der Mann tat verwundert. »Eine ›Langnase‹ ist dabei. Rate mal, was er von euch will?«
    Die Fremden, die schon am Lugu-See waren, nicht mehr als drei Hände voll in den Jahren, hatten Rucksäcke auf dem Rücken und stanken nach Schweiß. Mit dem Auto ist noch keiner gekommen … Der Bürgermeister kniff die Augen zusammen. »Aber die Frau kenne ich. Sie war schon einmal hier, mit einer Gruppe Chinesen aus Kunming.«
    »Sie heißt Wang Liyun und ist Reiseleiterin bei der CITS. Das ist ein Büro, das Reisen organisiert.«
    »Auch zu uns?«
    »In naher Zukunft.«
    »Das bedeutet nichts Gutes. Man wird unsere Jugend verderben!«
    »Auch die höchsten Berge halten den Fortschritt nicht auf.«
    Ying bremste vor dem Haus und rief den beiden Männern etwas zu. Da Ying nur Mandarin-Chinesisch sprach, verstand ihn der Bürgermeister nicht. Er sprach nur Mosuo-Dialekt, aber der Mann aus Zhongdian übersetzte.
    »Er sagt, sie wollen drei Betten. Sie hätten endlich den Scheißweg hinter sich.«

»Was meint er damit?« Der Bürgermeister starrte den Toyota an und dann Rathenow und Liyun, die ausstiegen. »Wo ist Scheiße? Mein Dorf ist sauber. Wir scheißen nicht auf die Straße. Welch ein unhöflicher Kerl ist dieser Mann am Steuer. Sag ihnen, sie sollen auf der Erde, unter den Bäumen schlafen.«
    Shens Mann übersetzte natürlich etwas völlig anderes. Er sagte freundlich: »Man freut sich, daß ihr gekommen seid. Der Bürgermeister Yang Tianming wird euch bei guten Familien unterbringen. Er lädt euch ein, in sein Haus zu kommen.«
    Liyun übersetzte, und sie betraten an dem verwunderten Bürgermeister vorbei seine massiv gebaute Hütte. Da er ein höflicher Mensch war, fügte er sich und folgte ihnen mit einem Kopfschütteln. Diese Fremden …
    In dem großen, düsteren Raum, in dem nur das offene Herdfeuer und zwei Talgtöpfe ein diffuses Licht verbreiteten, saß eine alte Frau und kochte Gerstenbrei. Sie erhob sich sofort, als Liyun und Rathenow eintraten, schöpfte mit einer Holzkelle, die ihr Sohn – der Bürgermeister – selbst geschnitzt hatte, aus einem Kessel Tee und rührte ein Klümpchen Yakbutter hinein, eine Spezialität.
    In zwei Tonschalen brachte die Alte das Getränk und hielt es den Gästen hin. Rathenow zögerte. Liyun beugte sich zu ihm und flüsterte ihm zu: »Sie müssen es trinken. Den Tee abzulehnen, käme einer Beleidigung gleich. Die Mutter ist der Vorstand des Hauses, das Oberhaupt der Familie. Bei den Mosuos beugt sich der Sohn immer dem Wunsch der Mutter. Auch wenn er geheiratet hat, lebt er tagsüber bei seiner Mutter, nicht bei seiner Frau. Eine Ehe im eigentlichen Sinne gibt es nicht. Aber das werden Sie alles noch sehen. Nehmen Sie den Tee, bitte!«
    Rathenow griff nach der Tonschale, atmete tief durch, schloß ergeben die Augen und setzte sie an den Mund. Der erste Schluck war widerlich, ihm wurde fast übel, doch beim zweiten Schluck hatte er sich schon daran gewöhnt. Was soll's?

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