Der Schwarze Mandarin
an?«
»Ich wollte nur deine Stimme hören, Papa …«
Wang runzelte die Stirn und setzte sich auf den Hocker am Fenster, auf dem sonst der Hausmeister saß. Der Beobachtungsposten. Was soll das? dachte er verwundert. Meine Stimme hören – das hat sie noch nie gesagt, das paßt gar nicht zu ihr. Da muß es doch einen anderen Grund geben! Ist der berühmte Deutsche ein unbequemer Gast? Macht er Liyun Schwierigkeiten? Ist es eine Last, ihn herumzuführen? Mein Kind, sag es mir! Dein Vater wird dich trösten. Die Menschen sind so verschieden wie die Kiesel an einem Fluß. Ärgere dich nicht! In drei Wochen fliegt er wieder fort, und mit ihm fliegt deine Last davon.
»Hast du Streit mit deinem Gast, Liyun?« fragte Wang.
»Streit? Nein – warum?«
»Was ist es dann? Meine Stimme soll dich trösten …?«
»Du bist sehr klug, Papa.« Liyun starrte gegen die Wand. »Ich habe ein Problem.«
»Mit dem Deutschen?«
»Nein, Papa, mit mir.«
»Rede, mein Töchterchen.«
»Ich glaube, ich … ich kann Shen Zhi nicht heiraten.«
Schweigen. Professor Wang blickte aus dem Fenster auf die Einfahrt des Häuserblocks. Vor den Häusern, auf der Straße, standen in einer langen Reihe jeden Tag Verkaufsstände mit Gemüse, Obst und Fleisch. Bauern, die morgens in die Stadt kamen und spät am Abend wieder abrückten. Sie machten ein gutes Geschäft, denn sie boten immer frische Ware an. Jetzt bauten sie gerade die Stände ab und schrubbten mit großen Reisigbesen die Straße sauber. Was soll man sagen, dachte Wang. Ja, was soll man sagen?
»Papa! Hörst du mich?« rief Liyuns Stimme.
»Ich höre dich.« Wang wiegte den Kopf. »Zhi ist ein guter, kluger Junge, das wissen wir alle. Aber du weißt auch, daß Mama und ich gegen eine Hochzeit waren. Immer. Er lebt in Dali, du in Kunming. Er wird nie nach Kunming in eine gute Stellung kommen, und dich werden sie nicht nach Dali gehen lassen. Und wenn sie es genehmigen: Du bist in Dali weit weg von uns. Das würde uns sehr traurig machen. Deine Mutter würde viel weinen, und ich würde auch weinen. Darum waren wir immer gegen eine Heirat mit Zhi. Wir wollen dich nicht verlieren.« Wang blickte wieder aus dem Fenster. Drei junge Mädchen bogen mit ihren Fahrrädern lachend in den Innenhof. »Du überraschst uns, Töchterchen, wenn du ihn jetzt auch nicht mehr heiraten willst. Habt ihr Streit gehabt?«
»Nein, Papa. Gar nicht.«
»Du liebst Zhi doch.«
»Das ist es, Papa. Ich weiß es nicht … Ich weiß es nicht mehr.«
»Ohne Liebe ist eine Ehe wie eine Sumpfpflanze. Sie blüht zwar, aber ihr Untergrund ist weich und tückisch.«
»Kluger Papa, was soll ich tun?«
»Geh in dich, meine Tochter, und erforsche deine Seele. Versenke dich in dein Ich und suche die Wahrheit. Und danach handele. Wer kann dir helfen, wenn du dir nicht selbst helfen kannst? Laotse hat einmal gesagt: ›Wer die Menschen kennt, ist ein Weiser; wer sich selbst kennt, ist ein Erleuchteter.‹ Bitte um Erleuchtung …«
»Wenn das so einfach wäre, Papa.« Liyuns Stimme begann zu zittern. »Ich bin hin- und hergerissen.«
»Liebst du einen anderen Mann?«
»Auch das weiß ich nicht. Es ist so furchtbar, Papa.«
»Und was sagt dieser Mann zu dir?«
»Er weiß es nicht. Er soll es auch nie wissen. Er darf es nicht wissen.«
»›Das Richtige zu wissen, es aber nicht tun – das ist Feigheit!‹, sagt Konfutse. Und Laotse sagt: ›Wer sich selbst überwindet, wird stark.‹ Werde stark, meine Tochter.«
»Papa, wenn du alles wüßtest … du würdest das nicht sagen. Nie!«
»Dann verstärke mein Wissen.«
»Ich kann nicht! Ich kann nicht … es ist so fürchterlich.«
»Dann frage nicht nach meinem Rat. Kämpfe gegen die Furcht und besiege sie.« Wang hob plötzlich den Kopf. Ein Gedanke schoß ihm durch den Kopf, der große Unruhe in ihm auslöste. »Vertraue mir, Töchterchen … Ist der Mann verheiratet?«
»Nein. Er ist Witwer.«
»Dann ist er schon älter?«
»Ja, Papa.«
»Ein Mann, der das Leben kennt, ist der beste Schutz. Stört dich sein Alter?«
»Ich weiß es nicht.«
»Li Tai-po sagt: ›Nicht darfst du den Menschen mit der Pinie vergleichen. Wie sollte sein Aussehen in all den Jahren gleichbleiben?‹ – Auch du wirst dich verändern, denn die Zeit frißt die Jugend.«
»Das ist es nicht, Papa. Er … er sieht gut aus. Zu gut … Das Problem ist ein anderes. Ein unlösbares Problem.«
»Sprich darüber, Liyun!«
»Noch nicht, Papa.« Er hörte sie heftig atmen. »Ich danke
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