Der Schwarze Mandarin
Abfallhalden wohnen. Die Arbeitgeber zahlen ihnen am Tag zehn Yuan, das sind nach deutschem Geld zwei Mark! Und sie sind damit zufrieden – es ist immerhin das Doppelte, was sie als Bauern verdienen könnten. Unabhängig vom Wetter, von Überschwemmungen und Mißernten. Zweitausend Yuan auf die Hand … das ist für sie ein Traum, wie bei Ihnen der Traum von den Millionen. Sind Sie ein Millionär?«
»Nein, aber mir geht es gut.«
»Ying wird einen neuen Vogel kaufen und ihn trainieren zum Kampf. Die 2.000 Yuan wird er sparen. Auch er hat einen großen Traum: Er möchte ein eigenes Taxi haben. Dafür sammelt er Geld wie andere Briefmarken. Geben Sie ihm in Kunming zum Abschied ein gutes Trinkgeld.«
»Ich werde ihm für sein Taxi hundert Dollar geben.«
»Jetzt sind Sie verrückt! Verzeihung … das ist mir so herausgerutscht.«
»Ying hat es verdient. Ohne ihn, sein Fahrergenie und seinen Mao Tai wären wir vielleicht nie zu den Mosuos gekommen.«
Unten, am Fuße des Hügels, saß Ying schon hinter dem Lenkrad, als Liyun und Rathenow die Lehmtreppe hinter sich hatten. Er war die personifizierte Traurigkeit, ein seelisch gebrochener Mann, er hatte seinen Liebling für schnödes Geld verkauft – aber der große Traum von einem eigenen Taxi würde sich eines Tages erfüllen.
Durch den Vogelkampf verspätet, erreichten sie erst in der Nacht Kunming. Ying mußte seine Angst vor den Nachtgeistern tapfer unterdrücken, tröstete sich mit dem Gedanken, daß sie einer ›Langnase‹ nichts anhaben könnten, und hielt vor den Glastüren des Hotels ›Goldener Drache‹. Der Manager, der sie an der Rezeption empfing, sah in der Reservierungsliste nach und nickte.
»Mister Rathenow«, sagte er auf englisch. »Ja, hier stehen Sie. Ein Zimmer für zwei Nächte. Sie wollten am Abend hier sein, jetzt ist es Nacht. Wir haben Ihr Zimmer weitervergeben. Bedaure, wir dachten, Sie kommen nicht mehr. Dann ist es üblich, daß wir …«
Rathenow winkte ab und wandte sich zu Liyun. »Das Zimmer ist weg! Wir sind zu spät gekommen. Was nun?«
»Das haben wir gleich.« Liyun trat an die Theke und legte beide Hände auf die polierte Platte. Natürlich kannte der Manager Wang Liyun vom CITS, ihre Touristengruppen bezogen immer in diesem Hotel Quartier – das war eine sichere Einnahmequelle –, aber das änderte nichts daran, daß in Mr. Rathenows Zimmer jetzt ein Amerikaner schlief. »Den Zimmerschlüssel!« sagte Liyun hart.
»Genossin Wang … es gibt kein Zimmer.«
»Soll ich die Polizei holen, Sun Fangchun?«
»Auch die kann kein Zimmer zaubern. Wer bis 22 Uhr nicht eintrifft …«
»Ich werde dafür sorgen, daß in Zukunft alle Gruppen im Holiday Inn oder im Kunming Hotel wohnen!«
»Sie … Sie hätten anrufen können.« Sun blätterte in der Belegungsliste. »Es ist nur noch eine Suite frei – die teuerste.«
»Sie werden Mr. Rathenow die Suite zum normalen Zimmerpreis geben!«
»Das ist bei uns nicht üblich, Frau Wang.«
»Dann ist es das erstemal! Herr Rathenow nimmt die Suite. Die Rechnung geht wie immer zur CITS. Und wenn Sie den vollen Preis berechnen … Su Fangchu, ich sage meinem obersten Chef, Herrn Fu Huang, daß er Sie von der Liste streicht. Herr Rathenow ist ein VIP, vom Kulturministerium in Beijing empfohlen. Auch der Genosse Parteisekretär von Yunnan ist sehr an ihm interessiert.«
»Ich werde es morgen früh der Direktion vortragen.«
»Den Schlüssel!« Liyun hob wieder die Hand. Su holte ihn vom Schlüsselbrett und ließ ihn in ihre Handfläche fallen. Rathenow tippte Liyun erstaunt auf die Schulter.
»Jetzt hat er doch ein Zimmer?«
»Nein, aber Sie bekommen die beste Suite des Hotels.« Sie sah sich um. Um diese Zeit war kein Page mehr da, der das Gepäck aufs Zimmer hätte bringen können. Sie winkte deshalb Ying herbei, gab ihm den Schlüssel, und er schleppte Rathenows zwei Koffer zum Lift und fuhr hinauf. Liyun und Rathenow gingen in die Halle. In der Bar packte die Band gerade ihre Instrument ein, ein paar hübsche Mädchen in Minikleidern musterten Rathenow und warfen ihm aufreizende Blicke zu.
»Die ›Hühnchen‹ … das wird wieder eine Nacht werden«, sagte er sarkastisch. »Sie lauern wie kleine Raubtiere …«
»Sie werden nicht mehr belästigt werden. Ich sage Su Bescheid. Er soll die ›Hühnchen‹ nicht mehr ans Telefon lassen. Übermorgen werden Sie wieder zurückfliegen. Kunming-Hongkong-Frankfurt-München, fast um die halbe Welt.«
»Ich möchte jetzt nicht daran
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