Der Schwarze Mandarin
hinauf. »Möchten Sie hinein?«
»Aber ja.«
»Sie müssen die Stufen hinauf.«
»Noch sind meine Adern im Bein nicht ganz geschlossen«, sagte Rathenow nicht ohne Sarkasmus. »Treppensteigen soll gut für die Durchblutung sein.«
Der Glockenturm enttäuschte … sein Inneres war ein einziger Markt. Stände mit typischen Kleinandenken, mit Rollbildern und Jadeschnitzereien, Anstecknadeln und Amuletten, bunten Kalligraphien mit Sinnsprüchen, Ansichtskarten, versilberten Buddhas und Figuren aus bemaltem Porzellan in alten Trachten und vieles mehr. Ganz hinten, eine ganze Wand einnehmend, hatte ein Batik-Händler seine Tücher ausgestellt … an langen Leinen hingen sie über seinen Tischen, und an der Wand klebten große Batikbilder mit volkstümlichen Motiven: Landschaften, tanzende Paare, Götterfratzen und chinesisches Landleben, so wie ein Tourist sich das Hinterland vorstellt, das er nie gesehen hat.
Als Rathenow sich an einem Schmuckstand umdrehte, war Liyun verschwunden. Er blickte wieder auf die vergoldeten oder sogar echt goldenen Spangen, Ringe, Reife und Broschen und fragte sich, ob es eine Beleidigung wäre, Liyun ein schönes Schmuckstück zu kaufen. Eine goldene Kette, mit sechs Rubinen besetzt, fiel ihm besonders auf. Ob echt oder nicht echt – sie war einfach schön. Um Liyuns schlanken Hals mußte sie hinreißend aussehen. Aber dann zögerte er doch, ließ die Rubinkette liegen und suchte in dem Gewühl der Besucher nach Liyun. Er fand sie, wie sie sich durch die Menge drängte, und winkte ihr zu. Am Eingang zum Glockenturm trafen sie sich wieder.
Sie trug ein kleines, flaches Päckchen in der Hand und atmete draußen die frische Luft ein.
»Sie kaufen wie verrückt, aber davon lebt der Tempel.« Sie zeigte die Treppen hinunter in den weiten Park. »Wir müssen den ganzen Weg zurück.«
»Sie haben auch etwas gekauft?«
»Nur eine Kleinigkeit.«
Da sie nicht sagte, was es war, fragte er nicht weiter. Sie wanderten zurück zum Eingang des Goldenen Tempels, wo Ying neben dem Wagen wartete. Liyun blieb stehen und blickte zurück auf die Parkwege.
»Das war der Abschluß«, sagte sie und unterdrückte tapfer ein Zittern in der Stimme. »Wir fahren zurück zum Hotel.«
Im Hotel angekommen, fragte Rathenow: »Der Abend liegt noch vor uns. Darf ich Sie zum Essen einladen? Ins russische Restaurant?«
»Sie müssen noch packen. Morgen früh um sieben Uhr hole ich Sie mit dem Taxi ab zum Wu Jian Ba Ji Chang …«
»Das heißt Flughafen …«
»Sie fliegen mit der Dragon Air Lines nach Hongkong und von dort mit der L UFTHANSA nach Frankfurt. In Frankfurt haben Sie nur eine halbe Stunde Aufenthalt und fliegen dann weiter nach München-Riem. Ein langer Flug. Sie sollten sich vorher ausruhen.«
»Ich kann wunderbar im Flieger schlafen. Lehne zurück, Beine hoch, Augen zu … und schon bin ich weg. Liyun, bitte, lassen Sie uns gemeinsam essen. Die Henkersmahlzeit. So kommt es mir vor …«
»Gut. Ich komme.« Sie nickte und wollte gehen. Aber Rathenow hielt sie am Ärmel fest.
»Was ist mit Wen Ying? Sehe ich ihn morgen noch?«
»Nein. Für ihn beginnen drei freie Tage. Ich habe für morgen ein Taxi bestellt.«
»Dann komme ich noch mit hinaus.«
Sie verließen das Hotel und gingen zum Wagen. Ying stand wie immer rauchend an der Motorhaube und grinste verlegen, als Rathenow ihn ansprach.
»Ying, ohne dich wäre diese Reise nicht möglich gewesen«, sagte er. »Auch wenn du gesoffen hast wie ein Elefant – es war fabelhaft mit dir. Liyun hat mir von deinem großen Traum erzählt: ein eigenes Taxi. Ich will dir für deinen Wagen die vier Reifen kaufen.« Er griff in seine Jackentasche und holte zwei zerknüllte Hundertdollarnoten heraus. »Ying, ich wünsche dir viel Glück und daß du dein eigenes Taxi bald bekommst. Wenn du dich bis dahin nicht mit Mao Tai totgesoffen hast.«
Liyun brauchte es nicht zu übersetzen. Was die ›Langnase‹ sagte, war für Ying unwichtig. Er sah nur die beiden 100-Dollar-Scheine, nahm sie, steckte sie in sein verschwitztes Hemd und schüttelte Rathenow beide Hände.
»Danke, Herr Deutscher«, sagte er. Den Namen Rathenow konnte er unmöglich behalten. »Danke. Es war eine große Ehre für mich, Sie zu fahren. Ich werde Sie nie vergessen. Ich werde es immer meinen Kindern erzählen.«
»Hat er Kinder?« fragte Rathenow. Liyun hob die Schultern.
»Ich weiß nicht. Verheiratet ist er jedenfalls nicht. Aber das ist ja kein Hindernis. Zu Ying gehören
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