Der Schwarze Mandarin
Mißgeburt!«
»Ha! Deiner pißt schon wieder.«
»Das ist sein Düsenantrieb. Gleich geht er ab wie eine Rakete.«
Als habe Yings Vogel das Stichwort gehört, sauste er plötzlich in den anderen Käfig und fiel über den krummschnäbeligen Gegner her. Ein wildes Flattern begann, ohne einen Laut, nur verbissene Wut und Kampfwillen. Immer und immer wieder stürzten sich die Vögel aufeinander, hackten aufeinander ein, schlugen mit den spitzen Zehen um sich, drückten den Gegner zu Boden. Die Zuschauer murmelten begeistert, aber niemand feuerte seinen Favoriten an – das galt als unhöflich. Nur Ying knirschte laut mit den Zähnen, spuckte auf die Erde und rang die Hände, wenn der Grüne den Schwarzen niederdrückte.
Und plötzlich war der Kampf vorbei. Der Krummschnabel legte sich auf die Seite, streckte die Füße von sich und ergab sich. Ohne noch einen Blick auf seinen Gegner zu werfen, hüpfte Yings Vogel in seinen Käfig zurück. Die Zuschauer klatschten in die Hände.
Stolz schloß Ying die Käfigtür und trug seinen Vogel aus der Arena. Der Ringrichter zahlte ihm die Siegerprämie aus: 100 Yuan – das ist eine Menge Geld für einen Chinesen. Doch als Ying zu Liyun und Rathenow hinüber nickte und gehen wollte, hielt ihn ein städtisch-elegant gekleideter Chinese fest.
»Ich komme aus Hongkong!« sagte er. »Ich möchte deinen Vogel kaufen.«
»Er ist unverkäuflich!« erwiderte Ying.
»Ich liebe so starke Kämpfer. Sei nicht dumm. Ich biete 1.000 Yuan!«
Ying starrte den Hongkong-Chinesen ungläubig an. Ihm wurde heiß. Er schielte zur Seite, wo sein Vogel in seinem Käfig auf dem Boden stand und Laute von sich gab, die an ein Grunzen erinnerten. Er putzte mit gesträubten Flügeln sein Gefieder. Als wüßte er, daß man über ihn verhandelte, hielt er plötzlich mit dem Putzen inne und stieß einen lauten, grellen Pfiff aus. Unmensch! Du willst mich verschachern?
»Du sagtest tausend – ich sage nein!« knirschte Ying. »Der Vogel ist wie mein Kind! Verkauft man sein Kind?«
»Ich kann ein Kind von den Bauern im Norden für weniger Yuan bekommen.« Der Mann aus Hongkong warf wieder einen Blick auf den schwarzen Sieger. »1.300 Yuan!« sagte er dann.
Ying wurde es schwindelig. Fast flehentlich sah er seinen Vogel an, bat innerlich um Verzeihung und zuckte zusammen, als der Vogel wieder seinen grellen Pfiff ertönen ließ.
»Es … es geht nicht!« klagte Ying und rollte mit den Augen. »Ich bringe es nicht übers Herz. Meine Seele wird weinen …«
»Legen wir ein Pflaster darauf, das heilt: 2.000 Yuan.«
Zweitausend Yuan sind für einen armen Chinesen eine Traumsumme. Davon kann er ein halbes Jahr sorglos leben. Wer ein solches Angebot abschlägt, gehört in das fensterlose Zimmer einer Irrenanstalt. In den Strafbunker.
Ying nickte stumm und hielt die Hand auf. Der Hongkong-Chinese holte aus seiner Jacke ein Bündel Banknoten heraus und zählte sie ab. 2.000 Yuan. Ying steckte sie schnell ein.
»Und der Käfig?« fragte er.
»Ich will die Frage nicht gehört haben.« Der Käufer bückte sich, nahm den Käfig am Tragbügel hoch und ging wortlos davon. Ying blickte ihm nach, sein Gesicht begann zu zucken, dann warf er sich herum und lief auf Liyun zu.
»Fahren wir weiter!« schrie er seine Qual hinaus. »Sofort! Sofort!«
»Wieviel hat er dir gegeben?« fragte Liyun.
»Zweitausend.«
»Total verrückt! Und wieviel hast du für den Vogel bezahlt?«
»Auf dem Vogelmarkt von Kunming 75 Yuan.«
»Und da jammerst du? Es war das Geschäft deines Lebens.«
»Aber nun bin ich allein. Mit meinem Liebling konnte ich sprechen; ich verstand ihn, wenn er mich angrunzte.«
»Kauf dir einen neuen Vogel, Ying.«
»Er war ein einmaliger Vogel. Nun bringt man ihn nach Hongkong! Er wird vor Heimweh sterben.«
Er senkte den Kopf und lief die Lehmtreppen hinunter zum Wagen. Langsam folgten ihm Liyun und Rathenow.
»Wie konnte Ying bloß seinen Vogel verkaufen?« fragte er.
»Für 2.000 Yuan können Sie bei den armen Bauern am Gelben Fluß vier Mädchen kaufen. Heute noch! Die Welt sieht nur das reiche China mit seiner aufstrebenden Wirtschaft … aber über 500 Millionen Chinesen sind arm. Viele wandern in die großen Städte, weil es heißt, dort sei das Paradies. Dann arbeiten sie am Bau, an den neuen Straßen, in den überall entstehenden Fabriken. In Shenzhen, der Musterstadt gegenüber von Guangzhou, wimmelt es von Schwarzarbeitern, die in Rohbauten, großen Betonabwasserrohren oder auf
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