Der schwarze Obelisk. Geschichte einer verspäteten Jugend
Johannisberger, jawohl.» Eduard erhebt sich eifrig und watschelt davon.
«Ich glaube, er ist ehrlich traurig», sagt Georg.
«Ehrlich traurig und ehrlich erleichtert.»
«Das meine ich. Mehr kann man meistens nicht verlangen.»
Wir sitzen eine Weile. «Es passiert eigentlich etwas viel im Augenblick, was?» sage ich schließlich.
Georg sieht mich an. «Prost! Einmal mußt du ja gehen. Und Valentin? Er hat ein paar Jahre länger gelebt, als man 97 hätte vermuten sollen.»
«Das haben wir alle.»
«Ja, und deshalb sollten wir was draus machen.»
«Tun wir das nicht?»
Georg lacht. «Man tut es, wenn man nichts anderes im Augenblick will, als was man gerade tut.»
Ich salutiere. «Dann habe ich nichts aus meinem gemacht. Und du?»
Er blinzelt. «Komm, laß uns hier verschwinden, ehe Eduard zurückkehrt. Zum Teufel mit seinem Wein!»
«Sanfe», sage ich gegen die Mauer in das Dunkel. «Sanfe und Wilde, Mimose und Peitsche, wie töricht war ich, dich besitzen zu wollen! Kann man den Wind einschließen? Was wird dann aus ihm? Verbrauchte Luf. Geh, geh deinen Weg, geh zu den Teatern und Konzerten, heirate einen Reserveoffizier und Bankdirektor, einen Inflationssieger, geh, Jugend, die du nur den verläßt, der dich verlassen will, Fahne, die flattert, aber nicht einzufangen ist, Segel vor vielen Blaus, Fata Morgana, Spiel der bunten Worte, geh, Isabelle, geh, meine späte, nachgeholte, über einen Krieg zurückgerissene, etwas zu wissende, etwas zu altkluge Jugend, geh, geht beide, und auch ich werde gehen, wir haben uns nichts vorzuwerfen, die Richtungen sind verschieden, aber auch das ist nur scheinbar, denn den Tod kann man nicht betrügen, man kann ihn nur bestehen. Lebt wohl! Wir sterben jeden Tag etwas mehr, aber wir leben auch jeden Tag etwas länger, ihr habt mich das gelehrt, und ich will es nicht vergessen, es gibt keine Vernichtung, und wer nichts halten will, besitzt alles, lebt wohl, ich küsse euch mit meinen leeren Lippen, ich umarme euch mit meinen Armen, die euch nicht halten können, lebt wohl, lebt wohl, ihr in mir, die ihr bleibt, solange ich euch nicht vergesse –»
Ich trage in meiner Hand eine Flasche Rothschen Korn und sitze auf der letzen Bank der Allee mit dem vollen Blick auf die Irrenanstalt. In meiner Tasche knistert ein Scheck auf harte Devisen: dreißig volle Schweizer Franken. Die Wunder haben nicht aufgehört: eine Schweizer Zeitung, die ich seit zwei Jahren mit meinen Gedichten bombardiert habe, hat in einem Anfall von Raserei eines angenommen und mir gleich den Scheck geschickt. Ich war bereits auf der Bank, mich zu erkundigen – die Sache stimmt. Der Bankvorsteher hat mir sofort einen Preis in schwarzer Mark dafür angeboten. Ich trage den Scheck in der Brusttasche, nahe dem Herzen. Er ist ein paar Tage zu spät gekommen. Ich hätte mir für ihn einen Anzug und ein weißes Hemd kaufen und damit eine repräsentable Figur vor den Damen Terhoven machen können. Dahin! Der Dezemberwind pfeif, der Scheck knistert, und ich sitze hier unten in einem imaginären Smoking, ein Paar imaginärer Lackschuhe, die Karl Brill mir noch schuldet, an den Füßen, und lobe Gott und bete dich an, Isabelle! Ein Taschentuch aus feinstem Batist flattert in meiner Brusttasche, ich bin ein Kapitalist auf der Wanderschaf, die Rote Mühle liegt mir zu Füßen, wenn ich will, in meiner Hand blinkt der Champagner des furchtlosen Trinkers, des Nie-genug-Trinkers, der Trank des Feldwebels Knopf, mit dem er den Tod in die Flucht schlug – und ich trinke gegen die graue Mauer mit dir dahinter, Isabelle, Jugend, mit deiner Mutter dahinter, mit dem Bankbuchhalter Gottes, Bodendiek, dahinter, mit dem Major der Vernunf, Wernicke, dahinter, mit der großen Verwirrung dahinter und dem ewigen Krieg, ich trinke und sehe gegenüber, links von mir, die Kreis-Hebammenanstalt, in der noch ein paar Fenster hell sind und in der Mütter gebären, und es fällt mir erst jetzt auf, daß sie so nahe bei der Irrenanstalt liegt – dabei kenne ich sie und sollte sie auch kennen, denn ich bin in ihr geboren worden und habe bis heute kaum je daran gedacht! Sei gegrüßt auch du, trautes Heim, Bienenstock der Fruchtbarkeit, man hat meine Mutter zu dir gebracht, weil wir arm waren und das Gebären dort umsonst war, wenn es vor einem Lehrgang werdender Hebammen geschah, und so diente ich schon bei meiner Geburt der Wissenschaf! Gegrüßt sei der unbekannte Baumeister, der
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