Der Schwarze Papst
auszubreiten, als wolle er sich emporschwingen, und ab und zu ein Bein zu heben. Er hatte also viel Zeit, beunruhigt zu sein.
Nicht, dass er um Massa besorgt gewesen wäre. Er konnte ihn nicht ausstehen, und im Übrigen waren Kammerherren keine Unikate - sie ließen sich ohne Schwierigkeiten ersetzen. Julius war nur insofern alarmiert, als er sich klarmachte, wer das Verschwinden Massas aller Wahrscheinlichkeit nach zu verantworten hatte: Milo, der Todesengel. Massa war seinem eigenen Geschöpf zum Opfer gefallen, dem Mörder, den er selbst gedungen, dem er den Namen gegeben hatte.
Noch bestand die Möglichkeit, dass Massa jeden Moment zur Tür hereinkäme, und Julius musste zugeben, dass ihn dieser Umstand ausnahmsweise erfreut hätte. Möglicherweise war er verletzt und befand sich in ärztlicher Behandlung, vielleicht führte er auch in diesem Augenblick jene Tat aus, zu der Julius ihn verpflichtet hatte.
Die Pforte der Audienzhalle öffnete sich vor Julius. Das Rascheln von Gewändern erinnerte ihn an den Wind, der über ein Kornfeld streicht. Julius vermied es, den Petrusstab, der ihn überragte, allzu fest auf den Marmor aufzusetzen, damit der metallische Klang diese Stille nicht störte. Er schritt die sieben mit Purpurteppich ausgelegten Stufen zu seinem Thron hinauf und setzte sich.
Ihm stand der Sinn nicht nach Bittstellern, aber er ermahnte
sich, dass die Erfüllung von Bitten den eigentlichen Sinn seines Amtes darstellte.
Als sich die Besucher wieder erhoben, raschelten ihre Gewänder erneut, und Julius schloss kurz die Augen.
»Die Liste, Eure Heiligkeit.«
Ein Stück Papier, auf dem in schönster Schrift die Entscheidungen des Heiligen Stuhls aufgeschrieben worden waren, eigentlich also seine Entscheidungen, aber die meisten nahm er erst jetzt zur Kenntnis. Es war üblich, dass die Bittsteller ihre Gesuche schriftlich einreichten, und über diese wurde dann von den diversen Kämmerern entschieden. Julius war ein Verkünder, aber nicht von Gottes Wort, sondern von dem Wort eines mittleren Verwaltungsbeamten des Kirchenstaates.
Er besah sich die Liste: Anträge auf Begnadigung, auf Renten, auf Befreiung von verschiedenen Abgaben und auf Überprüfung von Inquisitionsurteilen; Anträge von Klöstern, von Küstern, von Witwen, Handwerkern, Forschern, Bettelorden, geprellten Architekten, übergeschnappten Malern, und fast alle wollten sie Geld, Geld, Geld. Das war verständlich. Julius wollte ja auch Geld. Er brauchte es für breitere Straßen, prächtigere Kirchen, stärkere Heere, größere Prunkschiffe, festlichere Umzüge, festlichere Feste …
Er verkündete. Besser gesagt, der Protokollar neben ihm verkündete, und Julius hörte zu, wie acht von zehn Anträgen abgewiesen wurden, wie der neunte Antrag vermutlich nur deswegen positiv beschieden wurde, weil der glückliche Empfänger der Wohltat jemanden kannte, der jemanden kannte, der den Kämmerer kannte, und der zehnte Antrag, weil man barmherzig war.
Julius dachte an Sandro, und er dachte daran, aus diesem üblichen Prozedere auszubrechen und etwas zu tun, was Sandro, wäre er hier, gefallen würde. Die meisten der anwesenden Bittsteller waren einfache Leute mit einfachen Anliegen, die oft nicht mehr als ein paar Dukaten kosteten, aber mit großer Regelmäßigkeit
ignoriert wurden. Wieso nicht einmal ein anderes, ein mildtätiges Zeichen setzen? Wieso nicht einmal ein paar dieser Leute …
Milo. Da war Milo. Julius erkannte ihn. Dort, in dritter Reihe, stand er, sah ihn an, nickte ihm unmerklich zu.
Das war kein Zufall.
Massa war tot. Und sein Mörder wagte sich bis vor den Thron des Papstes. Unglaublich!
Doch wozu? Welcher Wahnsinn, welcher Teufel trieb den Todesengel, den Mörderengel hierher?
Julius gab dem Protokollbeamten ein Zeichen, dieser neigte sich ihm zu, und Julius flüsterte ihm ins Ohr, dass er drei der anwesenden Bittsteller persönlich anhören würde. Er sagte ihm auch, welche: einen Greis, eine kranke Frau und den jungen Mann in der dritten Reihe.
Die Betreffenden wurden aufgerufen und stellten sich am Fuß der Thronstufen auf. Der Greis bat darum, seinem Sohn, dem aufgrund liberaler Gedanken die Lehrberechtigung entzogen worden und der darum nun zu niedersten Tätigkeiten verdammt war, Gnade zu erweisen, und Julius gewährte die neuerliche Lehrberechtigung; die kranke Frau, die nach eigenem Bekunden nicht mehr lange zu leben hatte, wünschte, vor ihrem Tod nach Santiago de Compostela zu pilgern, wozu ihr die Mittel
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