Der Schwarze Papst
von Donaustauf in ihren Zimmern bleiben. Niemand darf irgendwohin gehen, außer auf die Latrine. Nur der Ehrwürdige und der Magister dürfen sich frei bewegen.«
»Und Ihr?«, fragte Forli. »Wohin geht Ihr?«
»Ich«, sagte Carissimi, »gehe zum Papst.«
Milos Stadt war zu seinem Kerker geworden. Er kannte sich bestens darin aus, kannte zahllose Leute, die mit ihm darin lebten, konnte aber weder einem von ihnen trauen noch die Mauern überwinden.
Die ganze Nacht und den Morgen hatte er damit verbracht,
zuerst Schlupflöcher und dann einen Unterschlupf zu suchen. Durch die Tore zu kommen versuchte er erst gar nicht, die wurden penibel bewacht, und jeder Wagen wurde so gründlich durchsucht, dass keine Schabe unentdeckt blieb. Die Lücken in der Stadtmauer waren ebenso mit Wachen besetzt, was die Schmuggler gewiss zum Schimpfen brachte, und zahlreiche Streifen stellten sicher, dass sogar der halsbrecherische Versuch, irgendwo das Bollwerk zu überwinden, scheitern musste. Zusätzlich zur Stadtwache patrouillierte die Schweizergarde durch die Gassen.
Milo war bei einem Bekannten untergekommen, was bedeutete, bei einem Verbrecher. Dort fühlte er sich am sichersten, denn Leute seines Schlages hatten wenig Neigung, ihn an die Polizei zu verraten. Jeder könnte schließlich mal in Milos Lage kommen und wäre dann froh, ein Versteck zu haben. Milo hatte im Laufe der Jahre gewiss sieben oder acht Flüchtlingen Obdach im Teatro gewährt, und sei es nur für eine Nacht.
Trotzdem hatte er nicht geschlafen. Nicht Misstrauen hielt ihn wach und auch nicht Angst, sondern etwas Neuartiges, ein unbekannter Gast, der sich in Milos Gedanken und Gefühle hineinfraß. Denn was war es anderes, wenn ein Bild, wenn ein Augenblick einem wieder und wieder vor Augen stand? Diese Frau ließ ihn nicht los.
Antonia? Wäre es doch bloß Antonia! Nein, sie nicht, eine andere Frau, deren Namen er nicht kannte, die er bloß ein einziges Mal gesehen hatte und der er auf der Straße nicht einmal nachgeblickt hätte. Es handelte sich um die mädchenhafte Frau, mit der er gestern auf der Flucht vor den Wachen an der Porta San Paolo zusammengestoßen war.
Dann der Schuss. Ihre Augen, diese jungen Augen, sahen ihn vorwurfsvoll an, so als sei er ihr Mörder. Genauso hatten seine Opfer ihn im Moment ihres Todes angesehen. Doch von denen kannte er Namen und Alter, er hatte einen Auftrag erhalten
und ihn ausgeführt. Mit diesem Mädchen hatte er nichts zu schaffen, er hatte sie nicht umgebracht. Ein Soldat hatte sich als schlechter Schütze erwiesen; was konnte denn er, Milo, dafür? Und doch kam die Frau immer wieder zurück.
Sie war seine Tote, sein Opfer. Sie war die Einzige seiner Getöteten, die er nicht selbst getötet hatte und deren Tod ihn belastete. Dieser einen Frau wegen entwickelte sich ein Gewissen in ihm, ein Gewissen nur für sie, seiner einzigen Last.
Wie viele Menschen hatte er umgebracht? Zwanzig, fünfundzwanzig? So viele, wie er Jahre zählte? Es war sein Schicksal, Menschenleben zu verschlingen, sogar noch im eigenen Untergang, sogar noch, wenn er nichts anderes tat, als wegzulaufen.
Im Morgengrauen waren die Ausrufer auf die Straßen und Plätze gegangen und hatten eine Belohnung für die Ergreifung Milos ausgesetzt - fünfhundert Dukaten. Damit kam eine Großfamilie durchs Jahr. Für eine solche Summe wurde auch ein Verbrecher zum Verräter an seinesgleichen. Milo hatte dem Mann, bei dem er Unterschlupf gefunden hatte, nicht länger vertraut, war abgehauen und zum ersten Mal in seinem Leben mit gesenktem Kopf durch Rom gegangen. Er hatte befürchtet, von jeder Wäscherin, jedem spielenden Kind, erkannt zu werden. Da hatte er angefangen, Carissimi zu hassen.
Nun stand er vor der Stätte seiner Kindheit und Jugend, seinem Heim, dem Teatro . Von einem ruhigen Winkel aus - der Vordereingang war bewacht - sah er zum Fenster seiner Mutter hinauf, und tatsächlich erblickte er sie, als sie die Läden öffnete. Kurz schien es so, als spüre sie seine Nähe, und ihr Blick suchte nach ihm, doch er drückte sich hinter einen Mauervorsprung. Gewiss war die Wachmannschaft als Erstes bei ihr gewesen, hatte sie befragt und informiert, und nun sorgte sie sich um ihn. Ja, so viel Gefühl billigte er ihr zu. Mehr aber auch nicht. In all den Jahren hatte sie keinen Wimpernschlag lang erwogen, dass ein Hurenhaus ein ungeeigneter Ort war, um
ein Kind großzuziehen. Bereits mit vier Jahren hatte er mitbekommen, wie die Frauen des Hauses
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