Der Schwarze Papst
heute weh, wenn sie daran dachte, dass sie ihnen keine würdigere Bestattung hatte ermöglichen können, als letztes Geschenk einer Mutter.
Sie hatte nicht viel getan auf dem Friedhof, nur dagesessen, ohne Angst vor der Nacht und ihren Geräuschen. Und dann war sie denselben Weg wieder zurückgegangen.
Jetzt war sie erschöpft und zugleich immer noch unwillig, den vergangenen Tag loszulassen. Etwas ging ihr im Kopf herum, etwas, das mit Johannes zu tun hatte, dem jungen, toten Schüler. Doch sie wusste nicht, was es zu bedeuten hatte.
Sie schlurfte durch den Hof auf ihren Eingang zu, wobei sie mehrmals fast über herumliegende Gegenstände gestolpert wäre. Offenbar hatte es am Abend eine Feier im Hof gegeben. Das Mädchen von gegenüber, Rosina, hatte wohl wieder
einmal getanzt. Ein Wildfang, diese Rosina. Giovanna sah ihr gerne vom Balkon aus zu, wenn sie tanzte. Vor dreißig Jahren hatte sie auch getanzt, nicht so gut wie Rosina, aber immerhin. Heute war sie einundfünfzig oder zweiundfünfzig, das hatte sie vergessen. Sie hatte ihr Leben gelebt. Eine Witwe. Von ihren sieben noch lebenden Kindern waren sechs aus dem Haus, die Töchter waren verheiratet, die Söhne zur See gefahren oder mit Söldnerheeren unterwegs. Nur ein Kind war noch da.
Sie öffnete die Tür zu jenem Zimmer, in dem das Mädchen schlief. Elf Jahre war es alt. Giovanna wäre fast bei der Geburt gestorben.
Clelia. Kleine Clelia. Hoffentlich ist es mir vergönnt, dich großzukriegen, gut zu verheiraten …
Giovanna schloss die Tür wieder, sehr sacht, damit Clelia nicht aufwachte. Dann wischte sie die Tränen ab. Genug der Tränen. Genug. Morgen würde Giovanna wieder die Gestrenge sein, die Vernünftige, die Antreiberin, die Lustige, die Direkte, die kein Blatt vor den Mund nahm. Mama Giovanna.
Sie zog sich aus, löste den Haarknoten und legte sich nieder. Kurz bevor sie einschlief, fiel ihr plötzlich etwas ein. Sie richtete sich im Bett auf.
»O Gott«, flüsterte sie. »Dio mio.«
Zweiter Tag
6
D ie Kirche San Spirito in Sassia lag nur einen Stein- wurf vom Vatikan entfernt. Auf alten Fundamenten aus dem achten Jahrhundert ruhend, war sie vor wenigen Jahren erneuert worden, und nun wurde ihr Innenraum neu gestaltet. Antonia stand auf einem verschachtelten Gerüst und überwachte das Einsetzen eines neuen Fensterteils, als Sandro die Kirche betrat. Nervös dirigierte sie die Männer nach links und rechts und oben und unten, und nie konnte es ihr langsam oder schnell genug gehen, egal, was die Männer taten. Die Arbeit eines Monats stand auf dem Spiel, denn das frisch fertiggestellte Fensterstück war während des Prozederes des Einsetzens in das Mauerwerk so anfällig wie nie davor und nie mehr danach.
Sandro verhielt sich still. Er wollte nicht, dass seine Anwesenheit Antonia ablenkte, und betrachtete aus einer Nische heraus die Arbeit der Frau, die er liebte. Wie erfrischend ihre Fenster waren! Sie stellte den Namenspatron der Kirche, den Heiligen Geist, als einen Jüngling dar, ein wenig launisch zwischen Heiterkeit und Nachdenklichkeit schwankend, voller Ideen, deren Umsetzung nicht gelang, voller Elan auch, der immer wieder durch menschliche Zuwiderhandlung gebremst wurde. Das war Antonias Stärke: den Figuren der Heiligen Schrift ein um einen Aspekt erweitertes Antlitz zu geben, ihnen gleichsam die Bärte abzuschneiden, ohne die Figur als solche anzutasten. Aus Sündern wurden keine Heiligen, aus Ungerechten keine Gerechten. Aber sie zeichnete sie von einer anderen Perspektive,
und sie ging dabei mit einem Maß an Mut vor, das niemals in Infamie umschlug. Die Gestalten ihrer Fenster, auch die göttlichen, waren ohne Pathos, so als wohnten sie um die Ecke, aber sie waren nie gewöhnlich.
Als das Fenster endlich an seinem Bestimmungsort angekommen war und die Helfer das Gerüst verlassen hatten, trat Sandro aus seinem Versteck und blickte nach oben. Antonia kniete auf den Brettern und befreite das Glas von Staub. Die Morgensonne fiel herein und tauchte sie in das Licht ihrer eigenen Schöpfung: Blau-, Rot- und Violetttöne überzogen ihren Körper, teilten ihr Gesicht in bunte Parzellen.
Als sie Sandro sah, winkte sie, und er winkte diskret zurück. Diskret deshalb, weil Maler, Bildhauer und deren Gehilfen in der Kirche waren, denen eine euphorische Begrüßung aufgefallen wäre. Mit Handzeichen gab er Antonia zu verstehen, dass sie herunterkommen sollte, und mit Handzeichen antwortete sie, er solle heraufkommen. Sie setzten
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