Der Schwarze Phoenix
Fragen.«
»Sie können sehen?«
Der Mann kicherte.
»Oh ja … ich sehe alles.«
Von der Bar her ertönte ein wütendes Aufheulen, und Jonathan vermutete, dass Carnegies Wolfsaugen erfasst hatten, was vor sich ging. Der Angreifer legte seinen Arm wie einen Schraubstock um Jonathans Hals. Jonathan konnte kaum noch atmen.
»Du verhältst dich besser ruhig«, flüsterte der Mann. »Ich würde ungern mit dem Messer ausrutschen.«
Zu seiner Linken hörte Jonathan schnell herannahende Schritte und schwere Atemzüge. Nicht die normalen Atemgeräusche eines Menschen, sondern das wütende Schnaufen eines aufgebrachten Raubtiers.
»Das ist nah genug, Carnegie.«
»Correlli? Was machst du hier?«
»Ich könnte dich dasselbe fragen. Du solltest dich nicht hier rumtreiben, Fragen stellen und deine Nase in Angelegenheiten stecken, die dich nichts angehen. Du machst die Leute nervös.«
»Leute werden nervös, wenn sie schlimme Dinge tun«, erwiderte der Wermensch. »Hast du schlimme Dinge getan?«
»Zu viele, um sie zu zählen, mein Freund. Und ich werde noch mehr tun, bevor ich abtrete.«
»Hast du Edwin Rafferty etwas Schlimmes angetan?«
Correlli verstärkte seinen Griff und Jonathan heulte vor Schmerz auf.
»Ich bring den Jungen um, das kannst du mir glauben!«
»Das glaube ich dir. Aber wenn er stirbt, reiße ich dich in Stücke und fresse dich auf. Das kannst du mir glauben.«
Der Mann kicherte. Er schien die Situation zu genießen.
»Also gut, mein Freund. Wenn du unvorstellbare Qualen leidest und dem Tode nah bist, dann denk daran, dass ich dich gewarnt habe: Hör auf, Fragen zu stellen – über Edwin Rafferty oder sonst irgendetwas – oder du wirst einen hohen Preis bezahlen. Lass dir das gesagt sein.«
Jonathan spürte, wie der Arm sich von seinem Hals löste. Mit einem Knistern flackerte ein Streichholz auf. Vom schlagartig aufleuchtenden Licht geblendet, erkannte Jonathan einen hünenhaften Mann, dessen Oberkörper nur mit einer roten Weste bekleidet war und der das brennende Streichholz an seine Lippen führte. Plötzlich erscholl ein lautes Tosen und der Mann spuckte züngelnde Flammen quer durch denRaum. Das Licht war gleißend hell, und die Männer, die seit Monaten keinen Sonnenstrahl mehr gesehen hatten, schrien auf, als der grelle Schein ihre geweiteten Pupillen blendete. Jonathan hielt sich die Augen zu und taumelte zu Boden, als sein Angreifer ihn zur Seite stieß. Sein Kopf krachte auf den kalten Steinboden. Abermals erfüllte ein Tosen den Raum und abermals schrien die Gäste des »Mitternacht« auf. Panische Schritte hasteten über den Boden, als die blinden Männer verzweifelt den Ausgang suchten. Jonathans Kopf dröhnte nach dem Aufschlag, Brandgeruch stieg ihm in die Nase, und er glaubte, Carnegie schmerzverzerrt aufschreien zu hören, als es um ihn herum schwarz wurde.
6
Nicholas de Quincy marschierte schnurstracks durch die Eingangstür eines billigen Cafés im Finsbury Park und schlug die Tür hinter sich zu. Die Kellnerin sprang erschrocken auf und der Koch hinter dem Tresen warf ihm einen finsteren Blick zu. De Quincy ignorierte ihn. Die lange Reise von Darkside in diesen Stadtteil im Norden Londons hatte ihm die Laune verdorben und der Anblick dieses Cafés verschlimmerte die Sache nur noch. Das, so schwor er sich, war das letzte Mal, dass er Humphrey gestattet hatte, ihren Treffpunkt auszuwählen.
Er putzte sein Monokel mit einem schwarzen Taschentuch und sah sich in dem schäbigen Café um. Die Luft stank nach Frittierfett und an den Fenstern lief das Kondenswasser herunter. Aus einem Radio tönte blechern Musik. Die grünen Plastikstühle waren alle leer, bis auf einen an einem Tisch hinten in der Ecke, auf dem Humphrey Granville saß, der gerade einen wilden Angriff auf einen beachtlichen Haufen Würstchen, Speck, Eier und gebackener Bohnen startete. Etliche Scheiben Toastbrot stapelten sich daneben auf einem Teller und ihnen gegenüber dampfte eine TasseKaffee. Während de Quincy ihn beobachtete, ließ er von seinem Essen ab und schlürfte lautstark einen Schluck Kaffee, wobei er seinen Schnurrbart im Milchschaum badete. Eine Zeitung lag ausgebreitet vor ihm auf dem Resopaltisch. In seine Lektüre vertieft, bemerkte Humphrey nicht, dass einige der Bohnen, die er sich in den Mund stopfte, auf sein Sakko kleckerten.
De Quincy lüftete seinen Zylinder und fuhr sich mit einer Hand durch sein steifes, borstiges Haar, um sich zu sammeln. Dann marschierte er zu dem Tisch und
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