Der schwarze Prinz
Stoffs so oft, dass daraus eine Schwingenkeule wurde. Das Stechen in ihren Handflächen trieb ihr die Tränen in die Augen, und sie würde mit dieser improvisierten Waffe bei dem Jötunn nicht viel ausrichten,
aber vielleicht würde es reichen, ihn damit beim Öffnen der Tür, wenn er das Tablett wieder abholte, zu überraschen, um an ihm vorbei nach draußen zu gelangen ... wo es hoffentlich keine Schutzrunen gab, die sie vom Wirken ihrer Magie abhielten. Und wenn sie erst einmal wieder über ihre Rüstung verfügte...
Dem Impuls, zur Tür zu rennen und sie aufzureißen, widerstehend, wartete Svenya vor Anspannung zitternd in Angriffsposition dicht bei der Schwelle auf den Eisriesen. Und wartete ... und wartete ...
Da hörte sie das Schnarchen. Sie schlich sich näher zur Tür und legte das Ohr gegen das Holz. Kann das sein? Tatsächlich: Der Jötunn schlief!
Svenya wartete noch ein paar Herzschläge lang, um dann vorsichtig die Tür zu öffnen. Zunächst nur einen winzigen Spaltbreit. Der Takt des Schnarchens blieb unverändert. Also machte Svenya die Tür so weit auf, dass sie durch den Schlitz hindurch nach draußen schauen konnte.
Der Eisriese saß an der gegenüberliegenden Wand. Er war völlig in sich zusammengesackt und sägte, was das Zeug hielt.
Auf Zehenspitzen trat Svenya aus der Zelle hinaus - die Schwingenkeule aus Stoff und Ton fest in der rechten Faust - jede Sekunde damit rechnend, dass der Riese nur markierte ... dass er in Wahrheit nur so tat, als ob er schliefe. Doch auch als sie an ihm vorbei zum Ausgang des Vorraumes schritt, rührte er sich nicht. Svenya legte die Keule zu Boden und flüsterte:
»Tega Andlit dyrglast.
Opinberra dhin tryggr edhli.
Dhin Magn lifnja
Oegna allr Fjandi
Enn Virdhingja af dhin Blodh.«
Sofort verwandelte sie sich in ihre übernatürliche Gestalt in der Rüstung, und der Rest ihrer Waffen erschien. Sie drückte das Emblem auf dem Rücken ihrer Hand, wurde unsichtbar und verließ ihr Gefängnis, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Hätte Svenya sich noch einmal umgedreht, hätte sie gesehen, wie Lau’Ley sich wie ein dünner, durchsichtiger Film von der Wand schälte und mit einem finsteren Lächeln Gestalt annahm. Sie öffnete die Keule, die Svenya aus dem Kissenbezug gemacht hatte, holte den Tonkrug daraus hervor und warf ihn auf die Steinfliesen. Ein Klirren und Bersten erfüllte den Raum. Der Jötunn rührte sich nicht. Auch nicht, als Lau’Ley die größte der Scherben nahm und seinem Leben damit ein Ende bereitete - schließlich musste es so aussehen, als hätte Svenya ihn übertölpelt und besiegt.
Sie erhob sich in die Luft und verließ den Ort auf dem gleichen Weg wie die Hüterin. Eine der Eigenschaften der Tinktur, die der Eisriese in ihr Wasser gemischt hatte, war, dass Svenya jetzt eine ganz besondere Witterung hinterließ, der Lau’Ley problemlos folgen konnte, ohne selbst in Gefahr zu geraten, von ihr entdeckt zu werden, weil sie keinen Sichtkontakt brauchte. Doch auch ohne die Witterung hinterließ Svenya eine Spur, wie Lau’Ley erkannte, als sie um die nächste Ecke bog. Die Tür am Ende der nach oben führenden Treppe war aus den Angeln gerissen, und dahinter lagen zwei weitere Wächter bewusstlos am Boden.
Svenya hatte die Schwerter der beiden von ihr bewusstlos geschlagenen Wachen an sich gebracht und eilte die vor ihr liegenden Treppen und Gänge nach oben. Die Waffen trotz der Schmerzen in ihren jetzt zu Fäusten geballten Händen zu halten, kostete sie große Anstrengung und frische Tränen. Zwei verschlossene Türen und sechs Wachen später hatte sie den Bereich des Kerkers hinter sich gelassen und vermied von hier aus jeden weiteren direkten Kontakt. Sie musste schnell sein, wenn sie die Festung verlassen wollte, ehe ihre Flucht entdeckt wurde. Zur Orientierung in der ihr völlig fremden, aus dem rohen Stein herausgehauenen Anlage hatte sie nichts weiter als ihren inneren Kompass. Mehr als einmal geriet sie in eine Sackgasse und musste umkehren, um einen neuen Weg zu suchen.
Trotz der Eile kam Svenya nicht umhin zu bemerken, wie sehr Aarhain sich von Elbenthal unterschied. Die gesamte Architektur war gröber ... rauer. Sehr viel weniger verspielt und kunstvoll als die Festung, die König Alberich direkt unter Dresden erbaut hatte. Der Grund dafür lag auf der Hand: Alberich war mit den Letzten seines Volkes - Männern, Frauen und Kindern - hierher geflohen, während Laurin nur mit einem Teil seiner Armee hier
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