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Der schwarze Schleier

Der schwarze Schleier

Titel: Der schwarze Schleier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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zerschellen lässt und ohne jegliche Reue Leben zerstört?«
    »Sie versetzen mich mit diesen Fragen in Angst und Schrecken, Sir!«
    »Um Sie zu retten, junge Dame, um Sie zu retten! Um Gottes willen, nehmen Sie all Ihre Kräfte zusammen und sammeln Sie all Ihre Stärke! Wenn Sie allein hier wären, ringsum von der hereinkommenden Flut umgeben, die bis auf fünfzig Fuß über Ihren Kopf ansteigen wird, so könnten Sie nicht in größerer Gefahr sein als in der, vor der Sie nun gerettet werden.«
    Die Schleife im Sand wurde weiter gezeichnet und lief ineinem krummen kleinen Schlenker aus, der an einer Klippe sehr nah bei uns lag.
    »So wahr ich hier sitze, vor dem Himmel und dem Richter aller Menschen, als Ihr Freund und der Freund Ihrer toten Schwester, flehe ich Sie feierlich an, Miss Niner, ohne jeglichen Aufschubs mit mir zu jenem Herren da drüben zu kommen.«
    Wäre der kleine Karren weniger nah bei uns gewesen, so bezweifele ich, ob es mir gelungen wäre, sie vom Fleck zu bewegen; aber er war so nah, dass wir dort waren, ehe sie sich von unserem eiligen Aufbruch vom Felsen erholt hatte. Ich blieb kaum zwei Minuten mit ihr dort stehen. Sicherlich hatte ich innerhalb von fünf Minuten die unaussprechliche Befriedigung, zu sehen – von dem Platz aus, an dem wir gesessen hatten und zu dem ich zurückgekehrt war –, wie sie, halb gestützt und halb getragen, von einer sportlichen Männergestalt einige grob herausgehauene Stufen hinaufgeführt wurde. Mit dieser Gestalt neben sich, das wusste ich, würde sie an jedem Ort der Welt in Sicherheit sein.
    Ich saß allein auf dem Felsen und erwartete Mr. Slinktons Rückkehr. Die Dämmerung brach herein, und die Schatten waren schon schwer, als er um die Landzunge herumkam, den Hut an einen Knopf gehängt, sich das nasse Haar mit einer seiner Hände glattstrich und mit der anderen Hand und einem Taschenkamm wieder den alten Pfad herstellte.
    »Meine Nichte ist nicht hier, Mr. Sampson?«, fragte er und blickte sich um.
    »Miss Niner schien nach Sonnenuntergang die kühle Seeluft etwas zu spüren und ist nach Hause gegangen.«
    Er schaute überrascht, als wäre es nicht ihre Art, irgendetwas ohne ihn zu machen, selbst eine so geringe Handlung von sich aus zu tun.
    »Ich habe Miss Niner überredet«, erklärte ich.
    »Ah!«, sagte er. »Sie lässt sich leicht überreden – zu ihrem eigenen Besten. Vielen Dank, Mr. Sampson, es ist sicher besser, wenn sie drinnen ist. Der Badeplatz war weiter weg, als ich dachte, ehrlich gesagt.«
    »Miss Niner ist sehr zart«, bemerkte ich.
    Er schüttelte den Kopf und seufzte tief. »Sehr, sehr, sehr zart. Sie werden sich erinnern, dass ich das auch erwähnt habe. Die Zeit, die seither verstrichen ist, hat sie nicht gekräftigt. Der finstere Schatten, der in so zarten Jahren auf ihre Schwester fiel, scheint sich vor meinen besorgten Augen nun auch auf sie zu legen, nur noch dunkler, noch dunkler. Die liebe, liebe Margaret! Aber wir müssen weiter hoffen.«
    Vor uns fuhr der Handkarren mit einer für das Gefährt eines Kranken höchst unziemlichen Geschwindigkeit und zeichnete äußerst unregelmäßige Schlangenlinien in den Sand. Mr. Slinkton, der dies bemerkte, nachdem er seine Augen mit den Taschentuch betupft hatte, sagte: »Wenn mich nicht alles täuscht, wird Ihr Freund bald umstürzen, Mr. Sampson.«
    »Das sieht recht wahrscheinlich aus«, antwortete ich.
    »Der Bedienstete muss betrunken sein.«
    »Die Bediensteten alter Herren betrinken sich manchmal«, versetzte ich ihm.
    »Der Major lässt sich heute anscheinend sehr mühelos ziehen, Mr. Sampson.«
    »Der Major lässt sich mühelos ziehen«, bestätigte ich.
    Zu diesem Zeitpunkt war der Karren, sehr zu meiner Erleichterung, bereits in der Dunkelheit verschwunden. Wir gingen noch ein wenig weiter Seite an Seite schweigend über den Sand. Nach einer kleinen Weile sagte er, mit einer Stimme, die immer noch von den Gefühlen, die der Gesundheitszustand seiner Nichte in ihm hervorgerufenhatte, angegriffen war: »Wollen Sie lange hierbleiben, Mr. Sampson?«
    »Nun, eigentlich nicht. Ich fahre heute Abend wieder zurück.«
    »So bald schon? Aber Ihre Geschäfte verlangen wohl ständig Ihre Aufmerksamkeit. Männer wie Mr. Sampson sind für andere zu wichtig, als dass man ihnen die Muße schenkte, ihrem Bedürfnis nach Entspannung und Freude nachzukommen.«
    »Da bin ich mir nicht so sicher«, antwortete ich. »Jedenfalls fahre ich zurück.«
    »Nach London?«
    »Nach London.«
    »Ich

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