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Der schwarze Schleier

Der schwarze Schleier

Titel: Der schwarze Schleier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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Weihnachtsmahl der sechs armen Reisenden als Gastgeber vorsitzen sollte.
    Ich ging zu meinem Gasthaus zurück, um die nötigen Anweisungen für den Truthahn und das Roastbeef zu geben, und den ganzen restlichen Tag über konnte ich mich auf nichts so recht konzentrieren, weil ich immer andie armen Reisenden denken musste. Wenn der Wind hart gegen das Fenster stürmte – es war ein kalter Tag, und dunkle Graupelschauer wechselten sich mit Zeiten wilder Helligkeit ab, als stürbe der Tag unter Zuckungen –, stellte ich mir vor, wie sie auf verschiedenen kalten Straßen ihrer Schlafstätte zustrebten, und war entzückt bei dem Gedanken, wie wenig sie vorausahnten, was für ein Abendessen sie dort erwartete. Ich malte mir in Gedanken ihre Porträts aus und gönnte mir hier und da ein bisschen schmückendes Beiwerk. Ich gab ihnen wehe Füße, ich machte sie hundemüde, ich ließ sie Pakete und Bündel schleppen, ich ließ sie an Wegweisern und Meilensteinen stehen bleiben und, auf ihre krummen Stöcke gestützt, nachlesen, was dort geschrieben stand, ich ließ sie in die Irre gehen, und ich füllte ihre fünf Sinne mit der Vorahnung, vielleicht die ganze Nacht draußen liegen und erfrieren zu müssen. Ich nahm meinen Hut, ging nach draußen und stieg bis oben auf die alte Burg, schaute über die windgepeitschten Berge, die sich zum Medway hinabsenken, beinahe in dem Glauben, ich könnte in der Ferne schon einige meiner Reisenden ausmachen. Nachdem es dunkel geworden war und man die Glocke der Kathedrale in der nun unsichtbaren Kirchturmspitze – als ich sie das letzte Mal erblicken konnte, eine Art Laube aus frostigem Raureif –, fünf, sechs, sieben schlagen hörte, da war ich so voller Gedanken an meine Reisenden, dass ich nichts essen konnte und mich gezwungen sah, sie auch noch in den rotglühenden Kohlen meines Feuers zu beobachten. Um diese Zeit sollten sie schon alle eingetroffen sein, hatten ihre Einlasskarten und waren ins Haus gegangen. Da wurde mein Vergnügen nur durch die Überlegung gestört, dass vielleicht einige Reisende zu spät gekommen waren und man sie ausgesperrt hatte.
    Als die Glocke der Kathedrale acht geschlagen hatte, konnte ich ein köstliches Aroma von Truthahn und Roastbeef riechen, das zum Fenster meines angrenzenden Schlafzimmers hinaufstieg, welches an genau der Stelle auf den Hof des Gasthofes hinausging, wo die Lichter der Küche ein großes Teilstück der Burgmauer beleuchteten. Jetzt war es höchste Zeit, meinen Weihnachtspunsch zu brauen; ich hatte die Zutaten beisammen (die ich nebst ihrem Verhältnis und ihrer Mischung mitzuteilen mich weigern muss, da sie mein einziges Geheimnis sind, das ich je wahren konnte) und bereitete ein herrliches Gebräu. Nicht in einer Schüssel, denn eine Schüssel ist, wenn sie nicht auf dem Regalbrett steht, eine Sache, die einen sehr ängstlich machen kann, da sie doch dazu neigt, schnell abzukühlen und überzuschwappen, sondern in einem braunen Tonkrug, der, sobald er gefüllt war, mit einem groben Tuch zugedeckt wurde. Da es nun beinahe Schlag neun war, machte ich mich auf zu Watts’ Wohltätiger Einrichtung, meine braune Schönheit in den Armen tragend. Ben, dem Kellner, würde ich Unsummen von Gold anvertrauen, aber es gibt Saiten in eines Menschen Herzen, die nie ein anderer anrühren darf, und in meinem Herzen sind die von mir gebrauten Getränke diese Saiten.
    Die Reisenden waren alle versammelt, das Tischtuch war aufgelegt, und Ben hatte ein großes Holzscheit mitgebracht und so kunstreich auf das Feuer geschichtet, dass ein, zwei Berührungen mit dem Schüreisen nach dem Abendessen uns im Nu ein loderndes Feuer bescheren würden. Nachdem ich meine braune Schönheit in einer warmen Ecke des Kamins, innerhalb des Kamingitters, abgestellt hatte, wo sie alsbald zu zirpen begann wie eine zarte Grille und gleichzeitig die Aromen reifer Weinberge, würziger Wälder und herrlicher Orangenhaine verströmte– wie gesagt, nachdem ich meine Schönheit so abgestellt hatte, dass ihre Sicherheit und ständige Verbesserung garantiert war, machte ich mich mit meinen Gästen bekannt, indem ich ringsum Hände schüttelte und sie herzlich willkommen hieß.
    Die Gesellschaft setzte sich folgendermaßen zusammen: Erstens ich. Zweitens ein außerordentlich ehrbarer Mann mit dem rechten Arm in der Schlinge, von dem ein gewisser angenehmer Holzgeruch ausging, aus dem ich schloss, dass er etwas mit Schiffsbau zu tun hatte. Drittens ein kleiner Leichtmatrose,

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