Der schwarze Schleier
Sitzordnung beibehielten, die wir bei Tisch gehabt hatten. Er hatte bereits auf seine ruhige Art den beiden unachtsamen Jungen diese oder jene Ohrfeige verpasst, bis er sie unmerklich aus dem Raum befördert hatte, und dann hatte er nach einem kleinen Scharmützel mit dem weiblichen Wesen mit den Soßen auch sie auf die High Street bugsiert, verschwand selbst ebenfalls und schloss leise die Tür hinter sich.
Jetzt war die Zeit gekommen, den Schürhaken beim Holzscheit in Aktion zu bringen. Ich klopfte dreimal darauf, als wäre es ein verzauberter Talisman, und schon brach eine leuchtende Heerschar von fröhlich Feiernden hervor und flog den Kamin hinauf – nicht ohne zuvor noch einen feurigen Ländler zu tanzen – und verschwand auf Nimmerwiedersehen. Inzwischen füllte ich im flackernden Licht, das unsere Lampen in den Schatten stellte, die Gläser und reichte sie meinen Reisenden – Weihnachten, Heiligabend, meine Freunde, als die Hirten, die auf ihre Art auch nur arme Reisende waren, den Chor der Engel singen hörten: »Friede auf Erden. Und den Menschen ein Wohlgefallen!«
Ich weiß nicht, wer von uns der Erste war, der meinte, wir sollten einander an den Händen fassen, während wir da saßen, oder ob einer von uns es den anderen voraustat, um dem Trinkspruch alle Ehre zu tun, jedenfalls machten wir es. Und dann tranken wir auf das Andenken des guten Master Richard Watts. Und ich wünschte, dass sein Geistunter diesem Dach niemals schlechter behandelt wurde als damals von uns.
Es war die Zauberstunde für das Geschichtenerzählen gekommen. »Unser ganzes Leben, liebe Reisende«, sagte ich, »ist eine Geschichte, die mehr oder weniger verständlich ist, im Allgemeinen eher weniger; aber wir werden sie in klarerem Licht lesen können, wenn sie einmal zu Ende ist. Ich jedenfalls bin heute Abend so zwischen Dichtung und Wahrheit hin- und hergerissen, dass ich kaum weiß, was das eine und was das andere ist. Soll ich uns die Zeit vertreiben, indem ich eine Geschichte erzähle, während wir hier sitzen?«
Sie antworteten alle mit Ja. Ich hatte ihnen nicht viel zu erzählen, aber ich war ja durch meinen eigenen Vorschlag gebunden. Deswegen schaute ich erst eine Weile auf die dampfende Spirale, die sich aus meiner braunen Schönheit in die Luft kräuselte und durch die ich, ich hätte es beinahe schwören können, das Bildnis des Master Richard Watts wesentlich milder gestimmt als sonst sehen konnte, und dann legte ich los.
Kapitel 2
Die Geschichte von Richard Doubledick
Im Jahre 1799 kam ein Verwandter von mir zu Fuß in diese Stadt Chatham gehumpelt. Ich sage in diese Stadt, denn wenn jemand von den Anwesenden haargenau weiß, wo Rochester aufhört und wo Chatham anfängt, dann hat er mir einiges voraus. Mein Verwandter war ein armer Reisender, der keinen Viertelpenny in der Tasche hatte. Er saß in genau diesem Zimmer hier am Feuer und schlief eineNacht in einem Bett, das heute Nacht von jemandem aus dieser Gesellschaft hier belegt wird.
Mein Verwandter kam nach Chatham, um sich hier bei einem Kavallerieregiment anwerben zu lassen, falls ihn ein Kavallerieregiment haben wollte; wenn nicht, dann um König Georges Shilling von jedem Korporal oder Sergeanten zu nehmen, der ihm eine Kokarde an den Hut heften würde 6 . Seine Absicht war, rasch erschossen zu werden; aber er hatte sich überlegt, dass er genauso gut in den Tod reiten könnte, als sich die Mühe des Marschierens zu machen.
Der Taufname meines Verwandten war Richard, aber besser war er als Dick bekannt. Seinen Nachnamen hatte er unterwegs fallenlassen und sich den Zunamen Doubledick zugelegt. Er wurde also als Richard Doubledick geführt, Alter: zweiundzwanzig, Größe: fünf Fuß zehn Zoll, Geburtsort: Exmouth, in dessen Nähe er sein ganzes Leben lang nicht einmal gekommen war. Es gab aber in Chatham keine Kavallerie, als er mit je einem halben Schuh an den staubigen Füßen über die Brücke hier gehumpelt kam, und so ließ er sich bei einem Regiment der Linientruppen anwerben und war es froh, sich zu betrinken und alles zu vergessen.
Sie müssen wissen, dass dieser Verwandte von mir ganz in die Irre gegangen war und ein sehr zügelloses Leben geführt hatte. Er trug das Herz am rechten Fleck, aber es war völlig verhärtet. Er war mit einer braven und wunderschönen jungen Frau verlobt gewesen, die er mehr geliebt hatte, als sie – oder vielleicht sogar er – geglaubt hätte; aber in einer bösen Stunde hatte er ihr guten Grund gegeben,
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