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Der Schweizversteher

Der Schweizversteher

Titel: Der Schweizversteher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diccon Bewes
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bestens vorbereitet – nachdem ich mich viel zu
lang durch die Homepage des Ortes geklickt habe, weiß ich weit mehr darüber,
als gut für mich ist. Gelinde gesagt sprudelte die Datenquelle schier über. Wer
weiß denn schon (oder muss wissen?), dass Hirzel 2106 Einwohner hat, von
denen 24 Prozent jünger als 19 Jahre sind und 26 Prozent katholisch? Oder dass hier 257 Ausländer leben? Vielleicht interessiert
es Sie ja, dass das Dorf aus 724 Häusern und einem Hotel (mit elf Betten) besteht? Verblüffenderweise gibt es
sieben Restaurants und zwei Cafés, die vermutlich all die Heidi-Touristen
versorgen, die nicht an einem Sonntag zwischen 14.00 und 16.00 Uhr hier auftauchen und dann nicht wissen, wohin. Ich riss ich mich vom
Computer los. Beinahe jeder Schweizer Ort hat eine solche Homepage, doch wer in
aller Welt liest das?
    Wir fahren in einer fast leeren Lokalbahn die
Westseite des Zürichsees entlang, zwar nicht gerade am Ufer (dafür stehen zu
viele Häuser dort), aber doch nah genug, um die Sonnenstrahlen auf dem Wasser
tanzen zu sehen. Der Zürichsee ist ein lang gezogenes schmales Gewässer, das an
seiner breitesten Stelle keine vier Kilometer misst, sodass man leicht das
gegenüberliegende Ufer sehen kann. Es ist als Goldküste bekannt und einer der
teuersten Flecken der Schweiz – wahrscheinlich der Grund, warum Tina Turner
hier lebt. Wegen der Einflugschneisen des Zürcher Flughafens führen die
Bewohner einen beharrlichen Kampf mit den Behörden. Sie wollen sich ihr
luxuriöses Leben schließlich nicht durch Fluglärm beeinträchtigen lassen –
höchstens durch das Röhren ihrer Privatjets.
    In Horgen steigen wir in einen der allgegenwärtigen
gelben Postbusse um, der selbstverständlich bereits auf die Zugreisenden
wartet. Der Busfahrer begrüßt alle, als er einsteigt, und dann geht’s los, die
Berge hinauf. Im Gegensatz zum Zug ist der Bus gut besetzt, bald gibt es nur
noch Stehplätze. Das Durchschnittsalter der Fahrgäste liegt bei etwa 77 Jahren – und unsere Anwesenheit hat es bereits um einiges gesenkt. Entweder
sind wir in einen Rentnerausflug nach Hirzel hineingeraten, oder die alten
Leute hier in der Gegend fahren kaum noch Auto. Wenn ich mich doch nur an den
Prozentsatz der über 65-Jährigen
in Hirzel erinnern könnte!
    Obwohl wir einen Höhenunterschied von 311 Metern überwinden, ist es keine spektakuläre, aber sehr angenehme Fahrt durch
eine Schweizer Hügellandschaft, wo braune Kühe die grünen Wiesen tüpfeln und
hin und wieder ein altes Bauernhaus zwischen den vielen neuen steht. Wir
durchqueren so winzige Weiler, dass wir kaum die Ortsschilder gelesen haben,
bevor wir sie schon wieder verlassen. Ab und zu bietet sich der Blick auf
einschüchternde Berge. Hier ist kein flaches Stück Land größer als der Hyde
Park. Als wir in Hirzel aus dem Bus steigen, lese ich auf einem Schild, dass
unser heutiger Fahrer W. Christen war und uns »Gute Fahrt« wünscht. Höflich wie
die Schweizer nun mal sind, allerdings auf Hochdeutsch.
    Das Spyri-Museum befindet sich in einem alten
Schulhaus wie aus Grimms Märchen: im Obergeschoss Fachwerk mit blutroten Balken
und darauf ein typisches A-förmiges Dach. In dem winzigen Garten steht ein
steinernes Standbild von Heidi, Peter und der unverzichtbaren Ziege. Es ist
definitiv der richtige Ort und die richtige Zeit: Die Uhr zeigt 14.03 Uhr,
und die Tür steht bereits offen. Ja, wir sind nicht einmal die Ersten, vier
Besucher waren vor uns da. Wahrscheinlich allesamt Schweizer.
    An den unverputzten Steinwänden im Erdgeschoss hängen
Schwarz-Weiß-Fotos von Johanna und ihrer Familie; alle blicken so ernst drein,
wie es sich für das 19. Jahrhundert gehört. Keinem wollte man gern in finsterer Nacht begegnen oder gar
eine Gutenachtgeschichte von ihm hören. Johanna Louise Heusser war das vierte
von sechs Kindern, ihr Vater war der Dorfarzt, ihre Mutter die Pfarrerstochter.
Bis sie mit 25 Jahren Johann Spyri kennenlernte, kam sie praktisch nicht aus ihrem Dorf
heraus. Es muss ein bisschen verwirrend gewesen sein: ein Johann und eine
Johanna, deren Vater ebenfalls Johann hieß. Aber das hielt sie nicht davon ab,
den Zürcher Anwalt zu heiraten und in die große Stadt zu ziehen. Allerdings
gewöhnte sie sich nie wirklich ans Stadtleben und litt an Depressionen, vor
allem nach der Geburt ihres Sohnes. Trost

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