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Der Schweizversteher

Der Schweizversteher

Titel: Der Schweizversteher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diccon Bewes
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noch Zeit, größer zu werden (bei Beginn der Geschichte ist sie
erst fünf). Als ich in Zürich eintreffe, bin ich nur vom Lesen schon ganz
erschöpft.
    Der zweitgrößte Schweizer Friedhof scheint nicht ganz
der rechte Ort zu sein, um nach der fiktionalen Verkörperung des Schweizer
Nationalcharakters zu suchen, aber Heidi suchen heißt, erst einmal ihre Autorin
zu entdecken. Es mag seltsam scheinen, dass ich bei Johanna Spyris Tod ansetze,
aber ihr Grab ist nun mal der einzig konkrete Ausgangspunkt, den ich entdecken
konnte. Nun muss ich es nur noch finden. Gleich hinter dem Eingang des
Friedhofs Sihlfeld hängt ein Plan, der allerdings nicht den geringsten Hinweis
enthält, wo Johanna begraben liegt. Da ich bei der Grabsuche ein bisschen
Schweizer Effizienz einberechnet hatte, ist die Aussicht, den ganzen Friedhof
absuchen zu müssen, wenig erfreulich.
    Da entdecke ich ein Pförtnerhäuschen, was Hilfe
verspricht, und dieser Lichtblick zaubert ein Lächeln auf mein Gesicht.
Vielleicht nicht ganz das Richtige, wenn man einen Friedhof betritt. Ist das
der Grund, dass mich die Dame in dem Pförtnerhäuschen so streng mustert?
Vermutlich liegt es nur daran, dass ihre Mittagspause um zwölf beginnt, und wir
haben bereits 11.57 Uhr.
Entschlossen, das Beste aus meinen drei Minuten zu machen, nähere ich mich
meinem imposanten Gegenüber am Schalter. Die Frau könnte olympische
Kugelstoßerin gewesen sein, allerdings mildert der tropische Sonnenuntergang
auf ihrem Kopf die Strenge der Erscheinung. Ihre Haare changieren zwischen
kirsch- und orangerot, aber vielleicht braucht man ein bisschen Farbe in diesem
Beruf. Und tatsächlich entpuppt sich Madame Tropischer Sonnenuntergang als
ausgesprochen freundlich und hilfsbereit; sie widmet mir weit mehr als drei
Minuten und händigt mir eine Liste der auf dem Friedhof Sihlfeld beerdigten
Berühmtheiten aus. Außer Frau Spyris Namen kenne ich bloß einen einzigen davon,
obwohl diese Leute ganz zweifellos in Zürich oder sogar in der ganzen Schweiz
bekannt sind, nur ein Engländer wie ich hat noch nie von ihnen gehört.
    Mit dem Plan in der Hand mache ich mich auf, Grab Nr. PG 81210/ D zu suchen, in dem Johanna Spyri liegt. Sihlfeld ist
ringsum von Häusern umgeben, vermittelt aber dennoch den Eindruck von Weite.
Madame Tropischer Sonnenuntergang hat mir erzählt, dass er voll belegt sei, es
also keinen Platz mehr für neue Gräber gebe, was aber schwer zu glauben ist.
Auf gepflegten Kieswegen wandernd beginne ich gar daran zu zweifeln, dass ich
mich überhaupt auf einem Friedhof befinde. Die breiten Alleen und großzügigen
Grünflächen erinnern mehr an einen Park, und dieser Eindruck wird noch dadurch
erhärtet, dass vier Männer die bereits tadellosen Wege und Rasenflächen rechen.
Alles typisch Schweiz und mehr Skulpturengarten als Trauerstätte. Mir gefällt
diese üppige Oase des Todes inmitten einer geschäftigen Stadt außerordentlich.
Nichts hier ist bedrückend, alles wirkt eher beruhigend und aufbauend. Ein
guter Platz für stilles Gedenken.
    Die Gräber scheinen ein nachträglicher Einfall gewesen
zu sein, sie spitzen hier und da zwischen Büschen und Blumen hervor. Die gut
sichtbaren sind ungemein stilvoll und modern und sehen aus, als würde sich um
jedes einzelne jemand persönlich kümmern. Makellos ist wohl der treffendste
Ausdruck. Auf den meisten stehen nur der Name und die Lebensdaten – keine
übertriebene Sentimentalität, keine platten Euphemismen für den Tod, nichts als
die nackten Fakten; auch das typisch Schweiz. Viele sind Familiengräber, und
zwar von weitverzweigten Familien über mehrere Generationen. Eines deckt 146
Jahre und sechs verschiedene Familiennamen ab, wobei jeder teilweise mit dem
vorherigen identisch ist wie bei dem Spiel, in dem sich von Wort zu Wort immer
ein Buchstabe ändert. Diese Familie hat es in sechs Schritten von
Gloor-Pfenninger zu Oppiker-Schweitzer gebracht, was gewissermaßen auch das
Jeder-kennt-jeden-über-sechs-Ecken-Phänomen veranschaulicht, vor allem wenn man
bedenkt, dass letztlich alle in einem Grab zusammenliegen.
    Verglichen mit solchen Familienzusammenführungen wirkt
das Spyri-Grab recht vereinsamt. Vor der hinteren, über und über mit Efeu
bewachsenen Friedhofsmauer steht ein schlichter weißer Stein mit einem großen
herausgemeißelten Kreuz, dem Namen und den

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