Der Schweizversteher
unglaublich niedliche Heidi, der
brummige GroÃvater, der schweigsame GeiÃenpeter und die Ziegen. Eine Menge
Ziegen. Vielleicht bieten sie in der Heidi-Woche bei McDonaldâs ja
Ziegenfleisch-Burger an? Warum nicht? Es gab schlieÃlich schon Rindfleisch-,
Hühnchen- und Gemüseburger. Wobei Ziege nicht sehr lecker klingt, eher
sehnig-knorpelig von all dem Rumgespringe an steilen Hängen. Selbst wenn ich
rotes Fleisch essen würde, wäre Ziege nicht meine erste Wahl.
Das Bimmeln einer StraÃenbahn versetzt mich wieder
zurück nach Bern, und ich eile über die kopfsteingepflasterte StraÃe. Ein
hilfreiches Plakat verrät mir, dass es nur 15 Sekunden bis zum
nächsten McDonaldâs sind, doch ich schaffe es in zehn, weil ich so darauf
brenne, die erwarteten Zöpfchenfrisuren, Kuhglocken, Ziegenburger und karierten
Servietten zu sehen. Und was wird mir dort geboten? Ein blitzblanker
amerikanischer Take-away, der überall auf der Welt sein könnte, verkauft
monströse Cholesterinberge â normale Hamburger mit Rösti und Emmentaler
zwischen Fleisch und Brötchenhälften. Kein Jodler ist zu hören, kein einziges
Karomuster zu sehen. Und schon gar keine Ziegen.
Offenbar hat die Welt da drauÃen das Heidi gekidnappt.
Sie ist nicht mehr das süÃe Mädchen aus meinen Kindertagen und, im Gegensatz zu
Rotkäppchen, vom groÃen, bösen Wolf gefressen worden. Die Animation am
Flughafen zeigt, dass die Schweizer ihr Potenzial längst erkannt haben und sich
ihrer bedienen, um die Schweiz und ihre Produkte zu vermarkten. Eine raffinierte
Verkaufsmasche, allerdings eine, die darauf setzt, dass das Heidi tatsächlich
der Inbegriff des Schweizerischen ist. Was zu überprüfen wäre.
Zu Besuch bei Johanna
Nach dem ernüchternden Stelldichein mit einem
Heidi-Burger stoÃe ich im Migros überraschend erneut auf das Heidi, es starrt
mich dutzendfach aus vielen Reihen im Kühlregal an. Heidi ist eine Marke
geworden, und zwar für Milchprodukte aller Art. Vollmilch, Joghurt, Käse,
Sahne, auf allem prangt ein engelsgleiches Mädchen und in groÃen roten
Buchstaben der Name »Heidi«. Dabei kommen in der Geschichte gar keine Kühe vor,
nur Ziegen. Eindeutig ein Fall von dichterischer Freiheit im Dienst des
Marketing.
Das Heidi ist in der Schweiz praktisch allgegenwärtig.
Ungeachtet ihrer Rolle als Nationalikone im In- und Ausland, ist sie das
Gesicht einer jeden Werbekampagne für ein Schweizer Produkt. Ich muss dieses
kleine Schweizer Mädchen endlich persönlich kennenlernen und mehr über das
Heidi und damit über die Schweizer Identität herausfinden. Natürlich kann ich
ihr auf dem Joghurtbecher höchstens zunicken und nicht die Hand schütteln, also
werde ich ihre Geschichte lesen und mich mit ihrer Erfinderin bekanntmachen.
Im Reich der Frauen, die man nur mit Vornamen kennt,
steht Heidi neben Cleopatra und Cher in der ersten Reihe, dabei weià ich fast
nichts über sie. Wie hieà sie beispielsweise mit Nachnamen? In der
Schweiz-Abteilung des Stauffacher English Bookshop steht ein Regal mit hiesigen
Autoren, wo das Heidi leicht unter S wie Spyri gefunden werden kann. Das Cover
zeigt ein kerngesund aussehendes Mädchen mit blonden Haaren, das zielstrebig
einen grasbewachsenen Hang hinaufläuft. Das rote Kleid mit der weiÃen Schürze
gibt ihr eine hübsch patriotische Schweizer Note. Ein kurzer Blick in die Einleitung
verrät mir, dass Johanna Spyri fast fünfzig Geschichten geschrieben hat, doch
sie enthält nur wenige Details aus ihrem Leben. Die Schöpferin der berühmtesten
Schweizerin bleibt geheimnisumwittert. Mir fällt nichts Besseres ein, als bei
ihrem Ende anzufangen und nach Zürich zu fahren, wo sie viele Jahre verbracht
hat und auch gestorben ist.
Im Zug lehne ich mich zurück und vertiefe mich in die
englische Ãbersetzung eines Schweizer Buchs, das auf Deutsch geschrieben wurde.
Da es sich um ein Kinderbuch mit ziemlich groÃer Schrift handelt, komme ich
damit ähnlich schnell voran wie der Zug. Hier Heidis Geschichte, erster Teil:
Nachdem das Waisenkind Heidi von einer unwirschen Tante beim brummigen
GroÃvater abgeladen wurde, gewinnt das Mädchen mit ihrer unschuldigen Art das
Herz des alten Mannes, vertieft ihre Freundschaft zum GeiÃenpeter, freundet
sich mit seiner blinden GroÃmutter an, tollt über Wiesen, füttert Ziegen und
findet dabei
Weitere Kostenlose Bücher