Der Schweizversteher
fand sie im Schreiben und bei
Urlaubsfahrten ins ländliche Maienfeld. Ihren gröÃten Erfolg feierte sie 1880 mit Heidi , doch nur wenige Jahre später starben ihr
Sohn und ihr Mann. Sie war nicht gerade eine lustige Witwe, gab aber Zeit und
Geld für wohltätige Zwecke und schrieb weiter, bis sie 1901 starb. Eine ziemlich
düstere Biografie â Heidi war wohl der einzige Lichtblick in ihrem Leben.
Bedrückt schleppe ich mich die steile Treppe hinauf.
Das erste, ganz aus Holz gebaute Stockwerk ist
ausschlieÃlich Spyris berühmter Heldin gewidmet, und die freundliche Aufseherin
plaudert munter über das kleine Mädchen, in dem sie eine frühe Feministin
sieht. Sie bestätigt, dass Heidi zwar in über fünfzig
Sprachen übersetzt ist, aber keine Fassung in Schwyzerdütsch vorliegt. Als ich
in die Glasvitrinen spähe, mache ich eine verblüffende Entdeckung. Die erste
Ausgabe von Heidi , Heidis Lehr-
und Wanderjahre , ist in Deutschland und nicht etwa in der Schweiz
erschienen und erzählt nur die halbe Geschichte. Das Buch war aber so
erfolgreich, dass im Jahr darauf eine Fortsetzung veröffentlicht wurde: Heidi kann brauchen, was es gelernt hat . Was wir heute als Heidi kennen, sind beide Geschichten zusammen. Und noch
aufschlussreicher: Das erste Buch ist anonym erschienen. Vielleicht musste sie
ja, wie ihre Zeitgenossin George Eliot, ihr Geschlecht verschweigen, um Erfolg
zu haben. Selbst heutzutage wird das ja noch praktiziert: Joanne Rowling wurde
zu J. K. Rowling, damit ihr Buch auch Jungen ansprach. Oder hat Johanna
Zuflucht in der Anonymität gesucht? Egal was der Grund war, die Scharade wurde
beim zweiten Buch jedenfalls nicht fortgesetzt: Auf dem Umschlag steht Johanna
Spyri.
In den Schaukästen sind alle möglichen
Denkwürdigkeiten ausgestellt: Bücher in den verschiedensten Sprachen, Videos,
Schallplatten, Kleidungsstücke und jede Menge Lebensmittelverpackungen.
Offenbar haben im Lauf der Jahre nicht nur McDonaldâs und Migros unsere junge
Heldin zum eigenen Nutzen eingesetzt; sie wurde für die Vermarktung von Tee,
Wein, Salat, Wurst und natürlich allen möglichen Molkereiprodukte missbraucht.
Vielleicht hätten sich weniger Firmen um sie gerissen, hätte sie ihren
ursprünglichen Namen behalten und ihn nicht zu Heidi abgekürzt: irgendwie fehlt
Adelheid der romantisch-niedliche Touch und klingt auch viel zu deutsch. Davon
einmal abgesehen, frage ich mich, was Johanna wohl dazu sagen würde, dass sich
ihr kleines Mädchen im Namen des Profits weltweit prostituieren muss.
Nach dem Museumsbesuch schlendern wir durch das Dorf,
das sich entlang der StraÃe den Berg hinunterzieht und nie irgendwelche Preise
einheimsen wird. Nicht jedes Schweizer Dorf ist eine Postkartenidylle. Manche
sind, wie dieses, einfach stinknormal. Die typische schlichte protestantische
Kirche und ihr modernes katholisches Gegenstück fast daneben, das eine Hotel,
eine Post, ein Metzger, ein Bäcker (keinen Kerzenzieher) und zwei der bereits
erwähnten Restaurants. Die übrigen fünf müssen sich in den Gassen dahinter
verstecken. Unten an der HauptstraÃe prangt eins dieser allgegenwärtigen
»Wanderweg«-Schilder, doch der Hinweis, dass man viereinhalb Stunden bis Zürich
braucht, stimmt uns, so verlockend er sein mag, nicht um. Als der Bus pünktlich
auf die Minute erscheint, steigen wir ein.
Willkommen in Heidiland
»Ich kann gar nicht fassen, dass ich endlich
tatsächlich in Heidis Haus stehe, es ist, als wäre ein Traum wahr geworden.«
Nicht meine Worte, sondern die einer begeisterten amerikanischen Touristin, die
sich im Heidihaus in Maienfeld â im fernen Osten der Schweiz nahe der
österreichischen Grenze â im Gästebuch verewigt hat. Diese hübsche kleine Stadt
ist Schauplatz der Geschichte und schlachtet die Verbindung zu Heidi nach
Kräften aus. Und nach den Touristenströmen zu urteilen gibt es dafür eine Menge
Möglichkeiten. Nicht von ungefähr wird diese Region in Graubünden von der Tourismusbehörde
als Heidiland vermarktet. Alles hier sieht aus wie eine Filmkulisse zum Buch:
Gewaltige graue Berge erheben sich über dicht bewaldeten Hängen und üppigen
Almwiesen, die zum Rheinufer hin immer flacher werden. Im groÃen Unterschied
zur inneren Schweiz haben die Berge hier nicht die schneebestäubte spitze
Dreiecksform, sondern heben sich schroff gezackt
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