Der Schweizversteher
Lebensdaten von Johanna Spyri (12. Juni
1827 bis 7. Juli 1901) und Psalm 39: »Herr, wess soll ich mich trösten? Ich hoffe auf dich«. Ihn flankieren zwei
identische weiÃe Kreuze, eins für Diethelm Bernhard und eins für Johann
Bernhard, die beide 1884
verstorben sind. Ihr Sohn wurde mit 28 Jahren von der Tuberkulose dahingerafft,
ihr Mann verkraftete den Verlust nicht und starb kurz darauf. Zwei Kreuze für
zwei schmerzliche Verluste, die Johanna in nur einem Jahr erlitt. Ziemlich
traurig das alles.
Bevor ich den Friedhof verlasse, mache ich noch einen
Umweg zu dem Grab mit dem anderen Namen, den ich auf der Liste von Madame
Tropischer Sonnenuntergang erkannt habe: Henri Dunant, Gründer des Roten
Kreuzes. Sein Grab ist ein viel prachtvolleres Monument, fast das
eindrucksvollste hier. In einer steinernen quadratischen Laube zeigt ein weiÃes
Standbild zwei Männer, von denen der eine verwundet daliegt und der andere
seinen Oberkörper stützt, um ihn zu versorgen. Beide sind bis zur Taille nackt,
was der trostlosen Pietà eine homoerotische Note verleiht. Verblasste rote
Rosen, ausgebrannte Teelichter und Girlanden aus gefalteten Papiervögeln
schmücken das Grab, ein melancholischer Duft von Weihrauch hängt in der
feuchten Luft. In die Rückwand ist ähnlich einer Kameebrosche ein so
realistisches Reliefporträt des bärtigen Henri Dunant gemeiÃelt, dass es wie
eine Totenmaske wirkt. Ein Schauder überläuft mich. Selbst als Toter macht
Henri Dunant groÃen Eindruck.
Neben dem Friedhofseingang ist auf einem groÃen weiÃen
Schild detailliert aufgeführt, was alles nicht gestattet ist â Joggen,
Badekleidung, Radfahren, Hunde, Abfall, Lärm. Mit den meisten Verboten bin ich
sofort einverstanden, schlieÃlich ist es ein Friedhof, aber woher rührt die
Furcht vor Badebekleidung? Wir sind hier ja nicht in Barcelona oder Brighton.
Da Zürich bestimmt 500 Kilometer vom nächsten Strand entfernt liegt, ist es höchst unwahrscheinlich,
dass hier Leute in Bikini oder Badehose herumspazieren, schon gar nicht auf
einem Friedhof. Doch die Schweizer stellen nun einmal gern so viele Regeln wie
möglich auf und wollen wohl auch fern vom Meer für alle Eventualitäten
gewappnet sein. Und schlieÃlich kann man im Zürichsee schwimmen, auch wenn er
ein gutes Stück vom Friedhof entfernt ist.
Am anderen Ende der Stadt steht das Haus, in dem
Johanna gelebt hat. Eine Steinplakette an der Hauswand von Zeltweg 9 sagt
mir, dass ich richtig bin â hier hat Johanna Spyri von 1886 bis zu ihrem Tod
gelebt. Die Klingelschilder zeigen, dass das Gebäude noch heute vorwiegend als
Wohnhaus genutzt wird. Doch da erregt ein Schild an Haus Nummer 11 meine Aufmerksamkeit â die Johanna-Spyri-Stiftung. Der richtige Name, aber die
falsche Adresse, jedoch nur ein Haus weiter, was für einen Unterschied kann das
schon machen? Ich steige die Steintreppe hoch und fühle mich um ein Jahrhundert
zurückversetzt. Ein wunderschön geschwungenes schmiedeeisernes Geländer führt
mich zu einer Tür mit Buntglasscheiben, die so farbig wie fein gearbeitet sind.
Drinnen dann prächtige Stuckdecken, Parkettböden, Verzierungen an den Türen â
und mitten in all der historischen Detailtreue ein geschäftiges modernes Büro.
Julia am Empfang erzählt mir, dass die Escherhäuser,
wie die Gebäude am Zeltweg heiÃen, in den 1850er-Jahren eigens als
Mietwohnungen für Gutbetuchte gebaut worden sind. Nach dem Tod ihres Sohnes und
ihres Mannes ist Johanna Spyri hier eingezogen. Aber offenbar verbrachte sie
hier nur wenig Zeit und nutzte das Haus hauptsächlich als Zweitwohnsitz, wenn
sie selten genug einmal in die Stadt kam. Ihr Name
lebt in dem Schweizerischen Institut für Kinder- und Jugendmedien fort (so der
offizielle Name), das sich der Leseförderung sowie der Forschung und
Dokumentation im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur widmet. Wie passend.
Ein Tag auf dem Land
Nachdem ich erkundet habe, wo Johanna starb, ist mein
nächstes Ziel Hirzel, ihr Geburtsort über dem Zürichsee. Es überrascht mich
nicht, dass die einzige Sehenswürdigkeit ein Spyri-Museum ist, allerdings hat
es die absurdesten Ãffnungszeiten der Welt: jeden Sonntag von 14.00 Uhr
bis 16.00 Uhr.
Nicht gerade einladend.
Also planen Gregor und ich unsere Fahrt so, dass wir
an einem Sonntag kurz nach 14.00 Uhr
dort eintreffen. Und ich bin
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