Der Schweizversteher
direkten Demokratie für ihre Zwecke
ausnutzt, sind sie nicht immer erfolgreich. Das konservative Bild der Schweiz
verstellt den Blick auf die erstaunlich liberale Haltung bei gesellschaftlichen
Streitthemen wie Drogenkonsum oder Beihilfe zum Suizid â beides wird nicht
aktiv unterstützt, ist aber in einem Maà akzeptiert wie in kaum einem anderen
Land (vielleicht mit Ausnahme der Niederlande). Auch sollten wir nicht
vergessen, dass in der Schweiz â als erstem Land der Welt â nicht etwa das
Parlament, sondern die Bevölkerung mit ihrem Votum homosexuellen Paaren die
Möglichkeit der »eingetragenen Partnerschaft« eröffnet hat. Oder dass die
Schweiz seit dem Krieg sehr vielen Flüchtlingen, ob aus Sri Lanka oder dem Kosovo,
Zuflucht gewährt und sie unterstützt hat, bis sie auf eigenen FüÃen standen.
Die Schweizer Politik mag in den Händen des Volkes liegen, das aber agiert
paradox â im Einklang mit all den anderen Widersprüchen der modernen Schweiz.
Wie die Minarett- und Ausschaffungsabstimmungen
gezeigt haben, geht es um die dauerhafte Integration, und da ist die Schweiz
nicht das einzige Land, das zaudert und mit sich hadert â die meisten Länder
Europas stehen vor dieser Herausforderung. Nur dass in der Schweiz die Hürden höher
sind und die Gesetze strikter. Eine legitime Verteidigung alles
Schweizerischen? Oder die Maske, hinter der sich Fremdenfeindlichkeit und
Rassismus verbergen? Die Schweizer sind offensichtlich in einer Zwickmühle:
Einerseits brauchen sie zusätzliche Arbeitskräfte, andererseits sind sie nicht
wirklich bereit, sie einzubeziehen. Dem liberalen Wunsch, den Bedürftigen zu
helfen, steht der konservative Drang nach verstärkter Kontrolle gegenüber.
Diese Nation erlebt einen Spagat zwischen einer idealisierten Vergangenheit und
der Verunsicherung durch eine multikulturelle Zukunft, zwar empfindet sie sich
als offen und tolerant, handelt aber nicht immer entsprechend. Eins jedenfalls
steht fest: Es werden die Schweizer Wähler sein, die entscheiden, wo es langgeht.
Doch es kann noch eine Weile dauern, bis sie wissen, was sie wollen und was das
Beste für ihr Land ist.
Für AuÃenstehende ist die vielschichtige Schweizer
Politik mit ihrer komplizierten Verteilung der Macht ein schier
undurchschaubares Labyrinth. Wer an die flammenden Gegensätze in der
britischen, amerikanischen, französischen und deutschen Politik gewöhnt ist,
findet sie vielleicht sogar fade. Aber was, wenn die Schweiz eher die Regel als
die Ausnahme wäre? Vielleicht ginge es in der Politik mehr um politische Fragen
und weniger um Personen, wenn alle Demokratien so gesamtheitlich funktionieren
würden. Man könnte Milliarden sparen, wenn Wahlkämpfe nicht so zugespitzt
geführt würden, und viele Menschenleben retten, wenn das Volk über Krieg und
Frieden zu entscheiden hätte. Welch ein Unterschied! Kein System ist perfekt,
und schon gar nicht das der Schweizer, aber manche sind besser als andere.
Jedenfalls ist das Verständnis dieser einzigartigen
Politikform der Schlüssel zu vielem, was die Schweiz und die Schweizer
ausmacht. Das nationale Modell von Konsens und Kompromiss formt das Schweizer
Denken und durchdringt die Gesellschaft auf jeder Ebene. Alles wird aus
verschiedenen Blickwinkeln betrachtet, zur Debatte gestellt und so formuliert,
dass es dem Willen der Mehrheit entspricht. Nein, Spontaneität ist keine
typisch schweizerische Eigenschaft: Weder schneit man unangekündigt bei
Freunden herein noch trifft man eine Entscheidung, die nicht bis aufs
i-Tüpfelchen diskutiert wurde. Fast alles wird so akribisch genau geplant wie
ein Zugfahrplan â ein Schweizer Zugfahrplan! Trotz all seiner Nachteile ist das
politische System der Schweiz das vielleicht beste Beispiel für gelebte
Demokratie. Oder, wie Abraham Lincoln einst sagte: »Regierung des Volkes, durch
das Volk und für das Volk.« Er muss die Schweiz vor Augen gehabt haben.
â
Survival-Tipp
Nummer 4
Mit einem Kreuzchen allein ist es nicht getan
Nichts in der Schweiz ist
unkompliziert, das gilt insbesondere für den Wahlgang. Als Tourist werden Sie
diese Erfahrung ja nie machen, und auch ständige Bewohner der Schweiz bekommen
oft nicht die Chance. Denn nur ein echter Schweizer darf wählen, und
wahrscheinlich ist das ganz gut so, denn niemand sonst kapiert das hiesige
System (ich frage mich allerdings, ob es
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