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Der Schweizversteher

Der Schweizversteher

Titel: Der Schweizversteher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diccon Bewes
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alle Schweizer verstehen). In anderen
Ländern kreuzt man schlicht ein Kästchen auf einem Zettel an oder locht ihn. Da
aber die Schweizer das komplizierteste Verhältniswahlrecht der Welt haben, kann
ein Studium der Quantenphysik nicht schaden, um es zu verstehen.
    Am einfachsten sind noch die Wahlen
zum Ständerat. Man hat zwei Stimmen, wenn dem Kanton, in dem man gemeldet ist,
zwei Sitze zustehen; wohnt man in einem Halbkanton, hat man eine. Ein Kandidat
oder eine Kandidatin ist dann gewählt, wenn er oder sie die absolute Mehrheit
der abgegebenen Stimmen auf sich vereint; ist das nicht der Fall, gibt es ein
paar Wochen später einen zweiten Wahlgang. Man kann nicht beide Stimmen für
denselben Kandidaten abgeben, was einem spontan einleuchten mag, bis … na ja,
lesen Sie weiter.
    Beim Nationalrat wird es ernst. Hier
hat man so viele Stimmen, wie Sitze zur Verfügung stehen, also im Kanton Zürich
34, im
Nachbarkanton Zug aber nur drei. Jede Partei stellt eine Liste auf oder auch
mehrere, falls sie unter ihrem Dach mehrere Gruppen vereinigt. So kandidiert
dann die
SVP
vielleicht mit einer Liste ihrer männlichen Kandidaten, einer Liste ihrer
weiblichen Kandidaten, einer der Parteijugend und einer internationalen – und
hat damit eine viermal größere Chance, Sitze zu erringen. Man könnte nun
einfach eine dieser vorsortierten Listen nehmen und dieser alle seine Stimmen
geben – aber das wäre doch langweilig! Viel schöner und kreativer ist es, die
Liste auf dreierlei Arten zu nutzen:
    Â 
    Streichen: Wenn Ihnen ein/e
Kandidat/in nicht gefällt, streichen Sie ihn/sie von der Liste. Damit hat er
beziehungsweise sie Ihre Stimme verloren. Sie können so viele Namen streichen,
wie Sie wollen, solange mindestens ein Name auf der Liste stehen bleibt.
    Kumulieren: Verschaffen Sie Ihren
Lieblingskandidaten eine größere Chance, indem Sie ihnen zwei Stimmen geben.
Dazu müssen Sie zuerst andere von der Liste streichen und dann neben den
ausgestrichenen Namen den von Ihnen bevorzugten setzen. Auch Parteien steht
diese Möglichkeit offen, denn sie können Kandidaten doppelt auf ihrer Liste
platzieren. Aber zwei Stimmen sind das Maximum; einem Kandidaten drei Stimmen
zu geben ist verboten! (Das wäre dann doch zu unfair.)
    Panaschieren: Eigentlich möchten Sie
für die
CVP
stimmen, aber Ihre beste Freundin kandidiert für die
FDP
? Kein Problem. Streichen Sie einfach
einen Namen von der
CVP
-Liste
und setzen Sie den Ihrer Freundin dafür ein. Oder noch besser: Sie streichen
gleich zwei Namen und geben Ihrer Freundin damit zwei Stimmen.
    Â 
    Als wäre das noch nicht genug des
Guten, können Sie auf einem Blankoformular auch Ihre eigene Liste erstellen,
indem Sie sich von den Kandidaten auf den bereits existierenden Listen
beliebige herauspicken – und dann kumulieren Sie munter, indem Sie deren Namen
doppelt aufschreiben. Sie müssen nur aufpassen, dass am Ende nicht mehr Namen
auf der Liste stehen, als Ihr Kanton Sitze hat. In großen Kantonen kann so eine
persönliche Listenerstellung durchaus zur Sisyphosarbeit werden. 2011
kandidierten für die
34 Sitze
im Kanton Zürich 802
Kandidaten auf dreißig Listen. Eine schier unüberblickbare Auswahl, sollte man
meinen, doch Hilfe steht bereit. Eine unabhängige Website fragt Sie nach Ihren
Ansichten zu einer ganzen Reihe von Themen und vergleicht Ihre Antworten mit
den Ansichten der Kandidaten. Nur wenige Klicks, und Ihre persönliche
Auswahlliste ist fertig. Willkommen im 21. Jahrhundert.
    Angesichts der Vielzahl von
Möglichkeiten könnte man Stunden in der Wahlkabine verbringen – schließlich
gilt es, Namen zu streichen, leserlich zu schreiben und auf einem zweiten
Wahlzettel von vorn anzufangen, weil man sich verschrieben hat. Die reinste
Prüfungsklausur! Um zu verhindern, dass alle Wahlen in eine schweißtreibende
Abstimmungsklausur münden, entscheiden sich die meisten Schweizer vernünftigerweise
für die Briefwahl. Es gibt zwar Wahllokale, oft im Bahnhof, aber sie sind
dünner gesät als in Deutschland oder Großbritannien. Wie so vieles ist hier
auch das Wählen eine höchst private Angelegenheit (außer natürlich in Appenzell
Innerrhoden und Glarus).
    Angesichts dieser Komplikationen
überrascht es nicht, dass die Wahlbeteiligung in der Schweiz meist recht
niedrig ist, bei den letzten allgemeinen Wahlen erreichte sie nicht einmal

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