Der Schweizversteher
ausgeladen werden, und mir nie Gedanken über den Inhalt gemacht. In
diesem Augenblick wird mir klar, wie viele Dinge des grauen Alltags wir für
selbstverständlich halten. Auch wenn wir uns alle manchmal über die
Lebenshaltungskosten beklagen, ist das nichts im Vergleich zum Preis des
Ãberlebens.
Eine Idee, auf dem Schlachtfeld geboren
Die Geschichtsabteilung macht die Besucher mit
Monsieur Dunant und seiner persönlichen Kampagne zur Ãnderung des Verhaltens
kriegführender Länder bekannt. Im Jahr 1859 war der 31-jährige
Bankier ein gutaussehender junger Mann mit Backenbart und einer Vorliebe für
weiÃe Anzüge. Damals bemühte er sich verzweifelt um eine Audienz bei Napoleon
III., den er verehrte; dass der dritte Napoleon damals in Norditalien gegen die
Ãsterreicher kämpfte, schreckte ihn offenbar nicht ab. Auf gingâs in die
Lombardei, wo er just ankam, als eine der blutigsten Schlachten dieses Krieges
gerade geschlagen war.
Das Feld bei Solferino war übersät von fast 40 000
toten und sterbenden Soldaten, die praktisch ihrem Schicksal überlassen wurden.
Dunant beschloss zu handeln; er organisierte innerhalb von drei Tagen die
Hilfeleistung einheimischer Frauen, kaufte Verbandsmaterial und Verpflegung und
sorgte für die Verwundeten beider Armeen. Diese blutige, traumatische Erfahrung
veränderte sein Leben und unsere Welt für immer. Entschlossen, eine dauerhafte
Veränderung herbeizuführen, schrieb er ein schmales Buch mit dem Titel Un Souvenir de Solferino ( Eine
Erinnerung an Solferino ) über die Schlacht, ihre Folgen und seine Idee,
eine Gesellschaft qualifizierter Freiwilliger zu gründen, die in Kriegszeiten
Verwundete versorgte. Dunant bezahlte den Druck von 1600 Exemplaren aus eigener
Tasche, wie es heute Autoren auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten tun, und verschickte
sie an die GroÃen und Guten (sowie Königshäuser und Politiker) in ganz Europa.
Es war ihm sofortiger Erfolg beschieden.
Aber abgesehen davon, dass ihn Charles Dickens, Victor
Hugo, die Königin von PreuÃen und die Zarin von Russland zum Helden des Tages
erklärten, sah Dunant anfangs kaum konkrete Ergebnisse. Doch im Jahr 1863
traf er mit vier anderen Genfern zusammen, darunter der scheinbar
allgegenwärtige General Dufour, und gründete mit ihnen das Internationale
Komitee der Hilfsgesellschaften für die Verwundetenpflege, aus
dem später das Rote Kreuz hervorging. Das Komitee organisierte auch die
internationale Konferenz, auf der die ursprüngliche Genfer Konvention
beschlossen wurde; dieses Dokument ist ebenfalls in dem Museum ausgestellt. Der
Vertrag wurde am 22.
August 1864
im Genfer Rathaus von zwölf Staaten unterzeichnet, er umfasste nur zehn Artikel
und legte die Regeln für die Behandlung Verwundeter auf dem Schlachtfeld fest.
Besonders wichtig: Damit wurde die Neutralität des medizinischen Personals, der
Fahrzeuge und Gebäude anerkannt und festgehalten, dass alle Kombattanten
versorgt werden sollten. In Artikel 7 heiÃt es: »Zu Ehren der Schweiz wird das
durch Umstellung der eidgenössischen Farben gebildete Wappenzeichen des roten
Kreuzes auf weissem Grund als Schutz- und Erkennungszeichen des
Sanitätsdienstes der Armeen beibehalten.« Eine Ikone der Hoffnung und des
Vertrauens war geboren. Erstaunlich ist allerdings, dass es insgesamt vier
Genfer Abkommen gibt. Drei weitere folgten für die Behandlung verwundeter
Seeleute, Kriegsgefangener und Zivilisten in Kriegszeiten. AuÃerdem gibt es ein
Zusatzprotokoll zum Schutz der Opfer bewaffneter Konflikte, auch Bürgerkriege.
Trotz seiner jahrelangen heroischen Arbeit hat das
Rote Kreuz nicht immer glücklich agiert. Nicht jedes Land wollte sich der Idee
von Neutralität und Fairness verschreiben. Und mochte es auch die Idee eines
Schweizers sein, die Schweiz selbst wartete zwei Jahre ab, ehe sie eine
Rotkreuz-Gesellschaft bildete. Was für Schweizer Verhältnisse allerdings ein
flottes Tempo ist; immerhin brauchte das Land 57 Jahre, um den Vereinten
Nationen beizutreten. Noch viel mehr Zeit lieÃen sich die USA ,
sie zögerten bis 1881,
ehe sie beitraten. Und wenn Sie meinen, politische Korrektheit und religiöse
Empfindlichkeiten seien moderne Ideen, so täuschen Sie sich. Da muslimische
Länder das Kreuz ablehnten, wurde bereits 1877 der Rote Halbmond als
Alternative anerkannt, obwohl es noch ein halbes Jahrhundert dauerte, bis
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